Wall Street ist hin- und hergerissen
Die Wall Street kann sich derzeit nicht entscheiden: Soll man sich noch über die Gewinnentwicklung im S&P 500 freuen oder doch schon auf die Auswirkungen eines möglichen Handelskriegs vorbereiten? Die meisten Analysten gehen davon aus, dass die US-Steuerreform auch 2019 noch kräftige Impulse gibt.Von Stefan Paravicini, New YorkDer US-Aktienmarkt ist derzeit hin- und hergerissen. Auf der einen Seite haben die meisten US-Unternehmen aus dem S&P 500 in der laufenden Berichtssaison erneut positiv überrascht und das Wirtschaftswachstum hat im zweiten Quartal mit inflationsbereinigten 4,1 % die höchste Dynamik seit fast vier Jahren entwickelt, während die niedrigste Arbeitslosigkeit seit Jahrzehnten weiterhin für gute Stimmung unter den Verbrauchern sorgt, deren Konsum mehr als 70 % der US-Wirtschaftsleistung ausmacht. Auf der anderen Seite nehmen die Drohgebärden im Handelskonflikt zwischen den USA und China immer bedrohlichere Züge an, weshalb Importzölle auf milliardenschwere Handelsvolumina und weitere Handelshemmnisse die wirtschaftliche Dynamik schon bald empfindlich stören könnten, während die US-Notenbank gerade dabei ist, die Zinsen zu erhöhen und irgendwann vielleicht auch die Löhne wieder Fahrt aufnehmen könnten. “Wir befinden uns in einer Umgebung mit Gewinnen auf ihrem Höhepunkt”, sagt Michael O’Rourke, Chefstratege der Brokerfirma Jones Trading. “Man weiß nur nicht genau, wo sich der Höhepunkt befindet”, beschreibt er das Dilemma vieler Marktbeobachter und Investoren. Markiert die erste Jahreshälfte 2018 vor dem Hintergrund der lauernden Risiken durch Handelskonflikte und des Anziehens der geldpolitischen Handbremse also bereits den Scheitelpunkt des jüngsten Höhenflugs im S&P 500, oder reicht der Impuls der Ende des vergangenen Jahres verabschiedeten US-Steuerreform aus, um die Unternehmensgewinne auch über den Jahresultimo hinaus in die Höhe zu treiben?In der laufenden Berichtssaison ist die Unsicherheit mit Händen zu greifen. Etwas mehr als vier Fünftel der Unternehmen aus dem S&P 500 haben in den vergangenen drei Wochen Zahlen zur ersten Jahreshälfte vorgelegt, und mehr als 80 % von ihnen haben die durchschnittlichen Analystenschätzungen übertroffen. Für die Aktien der Konzerne ging es danach im Schnitt gleich um 3,9 % nach oben oder nach unten, womit die Titel nach Angaben von Goldman Sachs so stark wie seit zwei Jahren nicht mehr reagiert haben. Verrechnet man die positiven und negativen Reaktionen, bewegten sich die Aktien nach den Zahlen im Schnitt um 0,6 % nach oben, während die Firmen im S&P 500 mit Rückenwind der Steuerreform im Mittel 23 % mehr als im Vergleichszeitraum verdient haben dürften. “Der S&P entwickelt sich nicht so schlecht, einige fragen sich aber, warum die Rally nicht stärker ausfällt”, sagt Jonathan Golub, Chefstratege von Credit Suisse für den US-Aktienmarkt. Immerhin hat der S&P 500 gerade die fünfte Woche in Folge mit Gewinnen hinter sich gebracht und startete gestern nur etwas mehr als 1 % unter dem Rekord vom Januar in den Handel. Auch der Dow Jones ist zuletzt fünf Wochen in Folge geklettert, auch wenn zuletzt nur noch ein kaum wahrnehmbares Plus von 0,05 % gelang. Der Technologiewerteindex Nasdaq, der zuletzt unter anderem von einem historischen Absturz des sozialen Netzwerks Facebook belastet wurde, schaffte nach zwei Wochen mit Verlusten im Windschatten von Apple ebenfalls ein Plus.Die Stimmung unter Investoren sei derzeit dennoch eher auf die negative Seite geneigt, sagt der US-Chefstratege der Credit Suisse. “Was passiert, wenn wir in einen Handelskrieg geraten? Was passiert im nächsten Jahr, wenn die wirtschaftliche Dynamik zu sinken beginnt”, sind nach Einschätzung von Golub die bestimmenden Fragen unter Investoren. Viel Optimismus für 2019Geht es nach den durchschnittlichen Analystenschätzungen, sind die Sorgen unbegründet. In den ersten sieben Monaten des laufenden Turnus haben sie ihre Prognosen für die Unternehmensgewinne im S&P 500 im nächsten Jahr nach Angaben von Bloomberg um 7,6 % erhöht. Es ist der mit Abstand höchste Zuwachs seit 2012, als vergleichbare Daten zum ersten Mal erhoben wurden, und in den sechs Jahren seither überhaupt erst das zweite Mal, dass die Marktbeobachter ihre Schätzungen nach oben revidiert haben.”Wir haben solide Zuwächse auf dem Arbeitsmarkt, eine starke Volkswirtschaft und zwei großartige Berichtsperioden hinter uns”, sagt Jim Paulsen, Chief Investment Officer von Lezthold Weeden Capital Management LLC. “Es ist ziemlich schwierig, aus so einer Situation mit einer negativen Einstellung herauszukommen.” Aktuell liegen die Erwartungen für den S&P 500 im nächsten Jahr bei 11,4 % mehr Gewinn, während er in diesem Jahr glatt ein Fünftel zulegen dürfte. Rund die Hälfte davon macht im laufenden Turnus die Steuerreform aus, die die US-Unternehmenssteuern von 35 auf 21 % gesenkt hat.