GASTBEITRAG ZUR SERIE ANLAGETHEMA IM BRENNPUNKT (70)

"War doch klar" - die narrative Verzerrung

Börsen-Zeitung, 11.5.2019 Kaufen, wenn die Kanonen donnern, ohne in das fallende Messer zu greifen. Aktien kaufen und sich dann schlafen legen. An Gewinnmitnahmen ist noch niemand gestorben. Die Liste der sogenannten Börsenweisheiten ist so lang,...

"War doch klar" - die narrative Verzerrung

Kaufen, wenn die Kanonen donnern, ohne in das fallende Messer zu greifen. Aktien kaufen und sich dann schlafen legen. An Gewinnmitnahmen ist noch niemand gestorben. Die Liste der sogenannten Börsenweisheiten ist so lang, dass sie in Deutschland höchstens noch durch Fußballzitate übertroffen wird. Wäre nicht an allen etwas Wahres dran, würden sie sich nicht so lange halten. Unpraktisch nur, dass es für beinahe jede Strategie mindestens zwei Weisheiten gibt, die sich diametral gegenüberstehen. Helfen also Börsenweisheiten dem Anleger?Viele Börsenkommentatoren und leider auch einige professionell mit Aktien befasste Akteure sind Meister der Ex-post-Analyse. Man liest dann umfangreiche Abhandlungen darüber, warum etwas genau so kommen musste, wie vorhersehbar ein Ereignis war und dass es im Vorfeld reichlich Warnsignale gab. Nassim Taleb, Autor des zum Standardwerk der Finanzkrise 2008 gewordenen Buches “The Black Swan”, spricht in diesem Zusammenhang von narrativer Verzerrung und meint damit den Drang des Menschen, ein unvorhersehbares Ereignis im Nachhinein plausibel zu begründen. Das mag dann das Weltbild des Kommentators wieder geraderücken – dem Anleger ist damit aber nicht geholfen, schließlich ist das Kind schon in den Brunnen gefallen.Dabei soll es hier gar nicht so sehr um sogenannte “Black Swan Events” gehen, also Ereignisse, deren Eintritt im Vorfeld mit so geringer mathematischer Wahrscheinlichkeit belegt ist, dass sie als unwahrscheinlich ausgeblendet werden. Viel interessanter ist, was sich daraus für den regelmäßigen Auswahlprozess des Aktieninvestors ableiten lässt. Und es zeigt sich, dass einfache Weisheiten und lineare Extrapolation häufig schlechte Ratgeber am Aktienmarkt sind.Die Liste der Opfer von technologischem Wandel und/oder Zeitgeist ist lang. Zu denken ist an Nokia, in den 2000er-Jahren globaler Marktführer für Mobiltelefone mit einer Marktkapitalisierung im dreistelligen Milliardenbereich. Bis dann zuerst Motorola mit einem extrem populären flachen Klapphandy Marktanteile gewann und später Apple mit dem iPhone der gesamten Branche den Todesstoß versetzte. Mehr als eine Dekade Marktdominanz haben sich so innerhalb kurzer Zeit mehr oder weniger in Luft aufgelöst. Nicht besser erging es anderen, aus unserem Alltag für Jahrzehnte nicht wegzudenkenden Ikonen der Wirtschaftsgeschichte, die dem digitalen Wandel nichts Ausreichendes entgegenzusetzen hatten – ein Beispiel dafür ist Kodak.Aber auch andere, an der Börse weniger zahlreich vertretene Branchen bleiben von Strukturbrüchen nicht verschont. Im Deutschland der Nachkriegszeit etwa haben Zeitungsverleger regelrechte Imperien aufgebaut. Tageszeitungen hatten quasi lokale Informationsmonopole, und das hochprofitable Geschäft mit Stellen- und Immobilienanzeigen füllte mitunter die halbe Zeitung. Mit der Verbreitung des Internets hat sich die Situation grundlegend und besonders drastisch geändert. Zum einen hat sich das Anzeigengeschäft nahezu vollständig auf neu geschaffene Internetplattformen verlagert. Zum anderen ist Information für jedermann und jederzeit online verfügbar geworden. Verlage, die sich nicht neu erfinden können oder wollen, sind auf der Strecke geblieben.Nicht viel besser wird es vermutlich den TV-Sendern ergehen. So haben Netflix & Co. zuerst den Videotheken den Garaus gemacht. Jetzt verdrängen sie das klassische Fernsehen, das bei Teenagern heutzutage in etwa so angesagt ist wie ein Nokia-Handy der ersten Generation.Umgekehrt findet man narrative Verzerrungen auch bei Geschäftsmodellen, deren Erfolg sich ex ante nicht für jedermann abgezeichnet hat. Das Verkaufen von Büchern im Internet unter Inkaufnahme hoher Verluste stieß in den frühen Jahren von Amazon nicht auf uneingeschränkte Begeisterung. Im Nachhinein ist der Gewinn von Marktanteilen “ohne Rücksicht auf Verluste” dann als Kernelement des Siegeszugs der US-Digitalkonzerne umgedeutet worden und ist mittlerweile – befeuert von ausreichend Kapital auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten – fester Bestandteil der aktuellen Managementlehre.Auch hier lässt sich die Liste beliebig verlängern mit Beispielen, die ein “Hätte man ahnen können”-Gefühl auslösen. Aber warum Google, wenn es doch schon Lycos und Altavista gab? Und welchen kommerziellen Nutzen hat ein College-Projekt eines gewissen Mark Zuckerberg, in dem sich Kommilitonen vernetzen können? Hier braucht es zum Verständnis mehr als ein Fortschreiben der Vergangenheit.Diese Trends frühzeitig zu erkennen, ist eine der Schlüsselaufgaben aktiver Fondsmanager, die sie von ETF, Smart Beta und Factor-Investing-Strategien unterscheidet. Die letztgenannten sind per Definition rückwärtsblickend und extrapolieren erfolgreiche Ansätze der Vergangenheit in die Zukunft. Dagegen ist prinzipiell gar nichts einzuwenden, man sollte sich nur der Limitationen bewusst sein. Wachsamer Blick lohnt sichTraditionell wird die Überlegenheit aktiver Anlagestrategien vor allem in weniger entwickelten Märkten und bei Small- und Mid-Cap-Aktien gesehen. Die genannten Beispiele zeigen allerdings, dass ein wachsamer Blick auch auf Unternehmen lohnt, die heute zu den Blue Chips zählen. Verändern sich Branchen strukturell, bleibt das in der langen Sicht nicht ohne Einfluss auf Aktienkurse.Strukturbrüche werden durch den Siegeszug des Internets häufiger, und sie vollziehen sich teils rasant. Der digitale Darwinismus erfordert Anpassung und Visionen von Unternehmen sowie mutiges Denken der Investoren. Bewusstes Handeln in der Gegenwart und die Beschäftigung mit der Zukunft ersparen die Suche nach einer plausiblen Erklärung für die Vergangenheit. Dann bedarf es nicht nur weniger Börsenweisheiten, sondern im Idealfall macht sich das bewusste Handeln auch im Anlageerfolg bemerkbar.—-Pascal Spano, Leiter Research Metzler Capital Markets —-Zuvor erschienen: Hochzinsanleihen – Wie gemacht für antizyklisches Investieren (69), DWS Schwellenländer: Unternehmensanleihen weniger riskant als gedacht (68), Vontobel