GASTBEITRAG ZUR SERIE: ANLAGETHEMA IM BRENNPUNKT (114)

Wenn Schwarze Schwäne zur Plage an den Finanzmärkten werden

Börsen-Zeitung, 18.4.2020 Die Aktienmärkte sind zwischen Februar und März in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit eingebrochen. Innerhalb von fünf Handelstagen verlor der S&P 500 nach seinem Allzeithoch am 19. Februar mehr als 10 %. Ein Bärenmarkt,...

Wenn Schwarze Schwäne zur Plage an den Finanzmärkten werden

Die Aktienmärkte sind zwischen Februar und März in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit eingebrochen. Innerhalb von fünf Handelstagen verlor der S&P 500 nach seinem Allzeithoch am 19. Februar mehr als 10 %. Ein Bärenmarkt, d. h. ein Verlust von mehr als 20 %, war nach 16 Handelstagen erreicht, ein Verlust von mehr als 30 % nach 22 Tagen. Lediglich die Abverkäufe in den Jahren 1929 und 1987 sind noch annähernd vergleichbar – damals wurde die Verlustmarke von 30 % nach 31 bzw. 38 Handelstagen gerissen. Diese außergewöhnliche Marktentwicklung ist nicht auf Aktien allein beschränkt. Seit Jahresbeginn ist eine hohe Anzahl abrupter, scharfer Marktbewegungen über alle Anlageklassen hinweg zu beobachten. Bis Anfang April gab es dieses Jahr bereits 44 solcher sogenannter 4-Sigma-Tagesbewegungen in zwölf ausgewählten Anlagen – doppelt so viele wie im Gesamtjahr der Finanzkrise 2008. So verlor allein der Euro Stoxx 50 am 12. März 12,4 %, eine Bewegung, die mehr als neunmal größer ist als die Standardabweichung der Renditen der vorigen 100 Handelstage. Die Wahrscheinlichkeit solcher Bewegungen liegt unter Annahme der Normalverteilung bei unter 0,01 %. Die Geschehnisse der vergangenen Wochen sind somit statistisch betrachtet höchst unwahrscheinlich.Spätestens seit der Finanzkrise ist den Marktteilnehmern bewusst, dass solche sogenannten “Schwarzen Schwäne” existieren. Denn Tagesbewegungen bzw. Renditen sind nicht normalverteilt, ihre Verteilungen weisen sogenannte “Fat Tails” auf, d. h. erhöhte Wahrscheinlichkeiten extremer Bewegungen. Allerdings scheint es, dass das, was im Umfeld der Finanzmarktkrise zu beobachten war, in den vergangenen Jahren immer mehr zur Normalität wurde. Im laufenden Jahr wurden Schwarze Schwäne dann schlussendlich zur Plage – natürlich nicht grundlos. Veränderte Struktur Die Ursachen liegen nicht allein in der abrupten Vollbremsung der Wirtschaft durch die Quarantänemaßnahmen zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie. Vielmehr lassen sich die extremen Marktbewegungen darauf zurückführen, dass sich die Struktur und das Verhalten der Kapitalmärkte in den vergangenen zehn Jahren wesentlich verändert haben. Steigende Liquiditätsanforderungen treffen auf eine deutlich verringerte Qualität der Liquidität. Beispielsweise gibt es immer weniger Value-Investoren, die auch mal konträr zum Marktgeschehen agieren.Zudem nehmen Banken seit der Finanzkrise deutlich weniger Risiken aufs eigene Buch. Strengere regulatorische Anforderungen machen das nahezu unmöglich. Anleger können nicht darauf vertrauen, dass Liquidität grundsätzlich verfügbar ist. Im Gegenteil: Liquidität versiegt genau dann, wenn man sie am nötigsten braucht – wenn die Volatilität steigt. Auf dieses zunehmend schwierige Umfeld für Anleger haben wir in den vergangenen beiden Jahren kontinuierlich hingewiesen.Ein wesentlicher Anteil am veränderten Verhalten der Märkte resultiert aus der zunehmenden Dominanz regelbasierter Anlagestrategien. Diese haben über die vergangene Dekade wesentlich an Bedeutung gewonnen, beispielsweise in Form von Robo-Advisors. Hier spielen besonders Ansätze mit Zielvolatilität, Risikoparitätsansätze, Trendfolge- (CTAs) und Short-Volatilität-Strategien eine zentrale Rolle.Ansätze mit Zielvolatilität allokieren systematisch über Anlageklassen, so dass die erwartete Volatilität des Portfolios der Zielvolatilität entspricht. Teilweise werden auch Optionen oder Futures eingesetzt, um die Zielvolatilität zu erreichen. Risikoparitätsansätze streben – im Gegensatz zur eher “traditionellen” Allokation von Kapital – Diversifizierung durch ausbalancierte Risikobeiträge einzelner Anlageklassen an. Anlageklassen mit geringer Volatilität erhalten entsprechend ein höheres Gewicht als jene mit höherer Volatilität. Im Multi-Asset-Bereich erhalten Anleihen damit im historischen Schnitt ein Portfoliogewicht von rund 70 %. Damit bei solchen Allokationen eine ansprechende absolute Rendite erzielt werden kann, erfolgt in der Regel eine Hebelung der gesamten Allokation. Beide Ansätze wirken mit ihrem prozyklischen Verhalten trendverstärkend. Da steigende Aktienmärkte in der Regel von fallender oder niedriger Volatilität begleitet werden, wird in diesen Zeiten die Allokation in Risikoanlagen erhöht. Fallen die Aktienmärkte und springen die Volatilitäten wiederum an, reduzieren die Strategien systematisch die Allokation in Risikoanlagen.In einem Umfeld, in dem die Volatilitäten aller Anlageklassen stark ansteigen, kommt es in beiden Strategien nicht nur zur Reallokation zwischen verschiedenen Anlageklassen, sondern letztlich zum Abbau von Risiken in allen Anlageklassen. Der Abbau der Hebelung von Risikoparitätsansätzen verstärkt diesen allgemeinen Abverkauf. Dieser wiederum führt zu einer steigenden Korrelation zwischen allen Anlageklassen. Der Diversifikationseffekt geht verloren, und die regelbasierten Ansätze müssen noch mehr Risiken abbauen. Ein Teufelskreis, der erst endet, wenn die Risiken auf ein extrem niedriges Niveau reduziert wurden.All diese Strategien tragen damit sowohl zu Regimen niedriger Volatilitäten als auch zum schnellen Anstieg dieser bei, indem sie gleichgerichtet und trendverstärkend agieren. Im Fall extremer Positionierung bedarf es möglicherweise nicht einmal eines großen fundamentalen Auslösers, um diesen Prozess in Gang zu setzen. Und in der Tat, nach der sehr guten Entwicklung aller Anlageklassen und der niedrigen Volatilität im Jahr 2019 hatten all diese Strategien zu Jahresbeginn eine Aktienallokation deutlich oberhalb ihres jeweiligen langfristigen Durchschnitts. Das machte die Märkte anfällig. Neben der Tatsache, dass wir im laufenden Jahr nur begrenztes fundamentales Potenzial bei Aktien sahen, schließlich hatten die Aktienmärkte eine Konjunkturerholung bereits eingepreist, war die extreme Positionierung regelbasierter Anlagestrategien ein Grund, aus dem wir zu Jahresbeginn nur sehr verhalten optimistisch für die Entwicklung von Aktien waren.Das Gros dieser regelbasierten Ansätze hat 2020 keine überzeugende Wertentwicklung generieren können, wie in vielen Fällen auch bereits in den vergangenen ein bis zwei Jahren. Und erste Anleger ziehen sich scheinbar wieder aus solchen Ansätzen zurück. So berichtete Bloomberg, dass Chinas Staatsfonds mit einem Volumen von 941 Mrd. Dollar sein Risiko-Paritäts-Portfolio bereits um etwa 50 % reduziert hat. Wie ist es aber zum starken Aufstieg von trendfolgenden Anlagestrategien gekommen? Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Finanzmarktkrise. Hoher Zuspruch nach KriseWährend der Finanzkrise haben trendfolgende Ansätze davon profitiert, dass die Aktienmärkte von den Höchstständen im Oktober 2007 zunächst langsam fielen. Trendfolgende Strategien hatten damit bereits Risiken abgebaut, bevor es zum Crash im Herbst 2008 kam. Sie gingen als die relativen Gewinner aus der Finanzkrise hervor und erhielten in der folgenden Dekade großen Zuspruch. Schließlich steckte allen Anlegern die Erinnerung an die Finanzmarktkrise in den Knochen, und eine Wiederholung dieser Erfahrung galt es möglichst zu vermeiden. Auch Backtests von neu aufgelegten Strategien zeigen in der Regel eine starke relative Performance während der Finanzmarktkrise. Die Backtests reichten aber meist nicht in das Jahr 1987, geschweige denn das Jahr 1929 zurück, in denen die Märkte ähnlich wie jüngst in kürzester Zeit vom Allzeithoch stark einbrachen.Die Verhaltensweise regelbasierter Anlagestrategien bestimmt aktuell wesentlich das kurzfristige Verhalten der Kapitalmärkte. Anleger sollten sich gut überlegen, ob sie auf solche Strategien setzen wollen oder nicht. Aus unserer Sicht erscheint es sinnvoll, stattdessen zu versuchen, von der Kenntnis der Verhaltensweisen dieser Strategien zu profitieren. Eine extreme Positionierung dieser Anlagegruppe beeinträchtigt das zukünftige Chance-Risiko-Verhältnis an den Kapitalmärkten. Nach dem starken Abverkauf sind systematische Strategien derzeit extrem defensiv positioniert – so hat deren Aktienquote historische Tiefstände erreicht. Das bietet auf einen mittleren Zeithorizont Chancen. Denn wenn die Volatilität zurückgeht und sich positive Trends bilden, werden diese Strategien wieder zunehmend Aktien kaufen.Die Coronakrise liegt leider noch lange nicht hinter uns, so dass eine abschließende Beurteilung nicht möglich ist. Aus heutiger Sicht spricht aber vieles dafür, dass sich der starke Trend der letzten Dekade hin zu trendfolgenden Anlagestrategien eher abschwächen dürfte. Je mehr Anleger solche Strategien verfolgen und gleichgerichtet agieren, desto weniger überzeugend dürften deren realisierte Wertentwicklungen ausfallen. Bernd Meyer, Chef-Anlagestratege und Leiter Multi Asset, Berenberg Bank Zuletzt erschienen: Einstiegsgelegenheiten bei Hochzinsanleihen (113), H&A Global Investment Management Die Stunde der Stock Picker (112), Metzler Capital Markets Ölschock: Was Schwellenländeranleihen bevorsteht (111), Vontobel Asset Management