Wie wahrscheinlich ist der Brexit?
Von Marina Lütje *)Die britischen Unterhauswahlen am 7. Mai sorgen für eine besonders hohe Spannung. Zum einen ist der Ausgang der Wahl diesmal extrem unsicher. Denn laut Umfragen wird keine der beiden großen Parteien, Conservative Party und Labour Party, wie sonst üblich die absolute Mehrheit der Parlamentssitze gewinnen können. Damit sind neben einer Koalitionsregierung auch eine Minderheitsregierung oder sogar Neuwahlen nicht auszuschließen. Zum anderen hat Premierminister David Cameron avisiert, bei seiner Wiederwahl (Conservative Party) ein Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU abzuhalten. Somit wird das Szenario eines Austritts von Großbritannien aus der EU – ein British Exit oder Brexit – konkreter. Die damit zusammenhängende Unsicherheit kann für Volatilität an den Märkten sorgen und mittelfristig zum Belastungsfaktor für die britische Konjunktur sowie langfristig für den europäischen Integrationsprozess werden. Doch wie wahrscheinlich ist der Brexit? Hypothetischer ZeitplanGrundsätzlich ist ein verfassungskonformer Austritt eines Landes aus der EU möglich. Erstmals geregelt haben das die EU-Länder im völkerrechtlichen Vertrag von Lissabon im Jahr 2009. Im Januar 2013 stellte Cameron in Aussicht, bei seiner Wiederwahl ein EU-Referendum mit der Frage “in or out” gegen Ende des Jahres 2017 durchzuführen. Dabei versprach er, die Rolle Großbritanniens innerhalb der EU neu zu verhandeln. Damit verbunden war die Absicht, den EU-Skeptikern innerhalb der eigenen Partei und dem Popularitätsanstieg der EU-kritischen UK Independence Party (UKIP) den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sollte die britische Bevölkerung mehrheitlich für den Austritt aus der EU stimmen, würde das Vereinigte Königreich Ende 2019 die EU-Mitgliedschaft aufgeben.Die Brexit-Befürworter kritisieren einen aus ihrer Sicht zu hohen Beitrag an den EU-Haushalt, fordern mehr Selbstbestimmung und die Begrenzung der Einwanderung zum Schutz des britischen Arbeitsmarkts und Sozialsystems, insbesondere vor Migranten aus den EU-Ländern der drei EU-Osterweiterungen seit 2004.Doch ein Austritt aus der EU würde diesen Forderungen kaum nachkommen, betrachtet man die Alternativen zur EU-Mitgliedschaft nach den Beispielen von Norwegen oder der Schweiz und unterstellt, dass Großbritannien weiterhin am freien Zugang zum großen EU-Binnenmarkt interessiert bleibt. Für den Letzteren müssen auch Norwegen über den Kohäsionsfonds und die Schweiz mit dem Unterstützungsbeitrag für die dreizehn EU-Staaten der EU-Osterweiterung bezahlen und das EU-Recht, somit auch die EU-Grundfreiheit der Personenfreizügigkeit, anwenden.Für Großbritannien bedeutet das, dass nach dem Brexit die Nettozahlungen an den EU-Haushalt kaum einzusparen wären. Diese betragen lediglich 0,5 % des britischen Bruttoinlandprodukts. Zudem widerspricht das Bestreben, durch Quoten die Migration aus der EU einzuschränken, jeglichen Assoziierungsvereinbarungen und wäre damit nicht umsetzbar. Ohne freien Zugang zum EU-Binnenmarkt würde Großbritannien als Standort für ausländische Investoren aus Europa, den USA und Japan stark an Attraktivität verlieren. Schließlich stellt sich Großbritannien mit dem Brexit schlechter, weil es als großes EU-Land sein Mitspracherecht bei EU-Entscheidungen verliert. Zwei VoraussetzungenDer Brexit ist an zwei Voraussetzungen geknüpft: Erstens müssten die Konservativen wiedergewählt werden und Cameron als neuer Regierungschef das Referendum bestätigen können. Zweitens müssten die Briten mehrheitlich für den Austritt aus der EU stimmen. Damit ist der Brexit doch eher unwahrscheinlich. In den aktuellen Umfragen liefern sich Conservative Party und Labour Party ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Doch rund ein Drittel der Stimmen geht an kleine Parteien, wie beispielsweise die UKIP oder die Liberal Democrats (LD). Das ist eine neue Entwicklung in dem ansonsten vom Zwei-Parteien-System dominierten Land. Demnach wird es wohl für keine Partei eine absolute Mehrheit geben.Als Koalitionspartner für die Konservativen käme der derzeitige Koalitionspartner LD, der nicht am Referendum interessiert ist, oder die UKIP in Frage. UKIP ist zwar die drittstärkste Partei in den Umfragen und hat großes Interesse am Referendum. Allerdings wird sie aufgrund ihrer schwachen regionalen Präsenz kaum Sitze im Parlament bekommen. Denn nach dem besonderen britischen Wahlrecht werden die 650 Parlamentssitze direkt den Siegern der 650 Wahlkreise zugeteilt – eine Hürde für kleine, aufstrebende Parteien. Damit bleibt es selbst beim Wahlsieg der Konservativen fraglich, ob sie das avisierte Referendum durchführen können.Des Weiteren zeigen Umfragen, dass die Briten grundsätzlich EU-freundlich sind. Die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft wird noch stärker, sollte es Cameron gelingen, die britischen Beziehungen mit der EU neu zu verhandeln und dadurch die britischen Interessen besser zu schützen. Eine vor Referenden typische Aufklärungsoffensive dürfte dieses Stimmungsbild eher ausbauen. Solide ErholungDie britische Wirtschaft befindet sich nach einer seit zwei Jahren anhaltenden, soliden Erholung mittlerweile in einer guten Verfassung: Das Bruttoinlandprodukt wächst mit Raten um 2,5 %, die Arbeitslosenquote liegt knapp über ihrem mittelfristigen Niveau von 5,5 %, die Lohndynamik zieht langsam an, die Bank of England thematisiert langsame Leitzinserhöhungen, die in diesem Jahr beginnen könnten. Nun sind, je nach Wahlausgang, drei Szenarien für Großbritannien denkbar. Sollte das Wahlergebnis kein Referendum mit sich bringen, würde die Erleichterung darüber positiv auf Konjunktur und Märkte wirken. Im Falle eines von den Konservativen durchgesetzten Referendums würde die Unsicherheit um den künftigen Status von Großbritannien mit der EU bis Ende 2017 anhalten, wenngleich davon ausgegangen werden kann, dass das Referendum zugunsten der EU ausfallen wird. Hierbei sind somit eher geringfügige Risikoaufschläge für Großbritannien und kaum Auswirkungen für Euroland zu erwarten.Erst in dem Fall, dass sich die Briten doch für den Brexit entscheiden, wäre der Höhepunkt der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit mit größeren Auswirkungen erreicht: Starke Pfund-Abwertung, deutliche Eintrübung der Unternehmensstimmung, Rückgänge bei Investitionen und Konsum. Die Risikoprämien für britische Staatspapiere sollten deutlich ansteigen.Für Europa wäre der Brexit eine empfindliche politische Schlappe, die ökonomisch verkraftbar wäre, wenn sie die einzige bliebe. Im Zusammenhang mit einem möglicherweise doch stattgefundenen Grexit könnte sie zu einer kompletten Neuausrichtung des Kontinents führen. Wirtschaftlich stünden dann wieder die Stärken und Schwächen jedes einzelnen Landes im Vordergrund.—-*) Marina Lütje ist im Makro-Research der DekaBank tätig.