Wildes Börsenjahr endet ohne Schlusspointe
Von Stefan Paravicini, New YorkKlar, das Geschehen an den Börsen ist selten etwas für schwache Nerven. Das zurückliegende Börsenjahr setzte in dieser Hinsicht aber gerade an der Wall Street neue Maßstäbe. Nach einem miserablen Start liefen die US-Börsen im Schlussspurt zu großer Form auf. Seit der US-Präsidentschaftswahl Anfang November vergingen nur wenige Tage, an denen es keine neuen Höchststände zu vermelden gab. Der Dow Jones Industrial Average kletterte bis auf 20 Punkte an die Schwelle von 20 000 Punkte heran, verpasste dann allerdings den bisher schnellsten Tausendersprung, der die passende Schlusspointe zum Börsenjahr gewesen wäre. Dennoch wies der Dow am Freitag zusammen mit dem breiter angelegten S & P 500 und dem Technologiewerteindex Nasdaq Composite solide Zugewinne im Dezember und insgesamt prozentual zweistellige Zuwächse im Vergleich zum Jahresbeginn auf. Sorgen zum AuftaktZum Jahresauftakt hatte es noch ganz anders ausgesehen. Gleich an den ersten beiden Handelstagen stürzte der S & P 500 um gut 6 % ab. Als der Ölpreis im Februar bei einem Zehnjahrestief von 25 Dollar angelangt war und sich die Sorgen um die konjunkturellen Aussichten für China und die Weltwirtschaft weiter verdichteten, attestierten Marktbeobachter den US-Börsen den schlechtesten Start seit 30 Jahren. Die Aufholjagd gleicht einem wilden Ritt, bei dem Investoren mindestens zweimal von einem politischen Einschnitt historischen Ausmaßes abgeworfen wurden, nur um wenig später wieder mit neuer Zuversicht in der Bullenherde mitzureiten.Sowohl den Entscheid Großbritanniens für einen Austritt aus der Europäischen Union als auch die Wahl von Donald Trump zum nächsten US-Präsidenten hatten viele Marktakteure in den Wochen vor der jeweiligen Entscheidung in teils apokalyptischen Farben als einen größten anzunehmenden Unfall geschildert. In beiden Fällen reagierten Investoren aber nur im ersten Moment geschockt. Die Kursverluste während der ersten Verkaufswelle waren aber schon wenig später wieder gutgemacht, weil die Anleger scharenweise in den Markt zurückkehrten, nachdem sie die Entscheidungen verarbeitet hatten. Schock und EuphorieDer Wiedereinstieg erfolgte dabei nicht nur erstaunlich beherzt, sondern erfasste die Märkte auch ungewöhnlich schnell, wie das Analysehaus CFRA Research vorrechnet. Im Durchschnitt fielen Märkte nach einem Schock um 3,5 % und machten die Verluste dann nach durchschnittlich 18 Kalendertagen wieder gut. Nach dem Brexit dauerte es jedoch lediglich 15 Tage, bis alle Verluste wieder ausgeglichen waren. Investoren hätten häufig zusammen mit der Herde verkauft und erst danach die möglichen Auswirkungen auf die US-Volkswirtschaft abgewogen.Besonders deutlich wurde das auch nach den US-Wahlen. Analysten und Medien hatten vorausgesagt, dass ein Sieg Trumps großen Schaden an den Märkten anrichten würde. Diese Prophezeiung erfüllte sich in der Wahlnacht wie von selbst und die Futures auf US-Aktien brachen ein. Als am nächsten Morgen klarwurde, dass Trump mit einem in beiden Kammern von Republikaner kontrollierten Kongress gute Chancen haben würde, seine Ankündigungen für eine wirtschaftsfreundliche Politik umzusetzen, änderten die Kurse in der Hoffnung auf eine handlungsfähige Regierung bald die Richtung und haben sich seither kaum nach hinten umgeblickt, obwohl der steigende Ölpreis ebenso wie der anziehende Dollar für den von Trump in Aussicht gestellten Aufschwung wenig Gutes verheißt.Den Schlussspurt an den US-Börsen deuten Marktbeobachter denn auch vor allem als Ausdruck der Erleichterung darüber, dass die Zeit der größten Unsicherheit für die Märkte mit Blick auf die US-Politik dem Ende zugeht. Der neue Präsident ist gewählt und sein Kabinett sowie die wichtigsten wirtschaftspolitischen Positionen gewinnen Kontur, die Pattstellung zwischen Weißem Haus und Kapitol scheint sich aufzulösen, die US-Notenbank hat mit ihrem jüngsten Zinsschritt den eingeleiteten Kurswechsel untermauert und für das neue Jahr weitere moderate Zinserhöhungen angekündigt.Die Risiken für den Aufschwung an den US-Börsen sind erheblich, nicht nur weil die Bullen mittlerweile die zweitlängste Strecke seit dem Zweiten Weltkrieg hinter sich gebracht haben und die Bewertungen im historischen Vergleich hoch sind. Die Schlusspointe zum Börsenjahr 2016 könnte der Dow Jones dennoch schon bald nachholen, wenn die Händler aus den Weihnachtsferien an die Börse zurückkehren.