"Wir erleben in China einen Konsum-Superzyklus"
Durch den Umbau der chinesischen Volkswirtschaft hin zu einem stärker von der Inlandsnachfrage getriebenen Wachstum ergeben sich nach Meinung von Nicholas Yeo Chancen für Anleger. Gerade das A-Aktien-Segment bietet dem Fondsmanager und Head of China/Hong Kong Equities Team bei Aberdeen Standard Investments zufolge attraktive Anlagemöglichkeiten. Herr Yeo, was bedeutet der Waffenstillstand im Handelskonflikt zwischen den USA und China für den chinesischen Aktienmarkt?Wir neigen eher dazu, den möglichen Ausgang des Konflikts nicht zu kommentieren. Eine für uns relevante Folge des Konflikts ist aber auf jeden Fall, dass sich die chinesische Regierung noch stärker auf den Umbau der Volkswirtschaft fokussieren wird. Ohnehin entfallen auf den Export bereits nur noch weniger als 20 % des Bruttoinlandsprodukts, und auch der Anteil der USA an den chinesischen Ausfuhren liegt bei weniger als 20 %, das heißt, der Einfluss des Exports auf die Wirtschaft Chinas ist geringer als allgemein angenommen. China galt lange als die Werkstatt der Welt. Die Auffassung, dass China aufgrund seines langjährigen Etiketts “Werkstatt der Welt” exportorientiert ist, ist überholt. Was heute die Wirtschaft wirklich antreibt, ist der Dienstleistungssektor beziehungsweise der inländische Konsum. Welchen Anteil am Bruttoinlandsprodukt hat der Dienstleistungssektor?Sein Anteil liegt mittlerweile bei mehr als 50 %. Er wächst auch schneller als andere Treiber der Wirtschaft, das heißt als die Exporte und die Investitionen. Die Regierung hat dem Export in den zurückliegenden zehn Jahren eine immer geringere Bedeutung eingeräumt und mehr auf die Förderung der Inlandsnachfrage gesetzt. Welche Hauptfaktoren treiben das Wachstum der Inlandsnachfrage?Von großer Bedeutung ist, dass China eine sehr große Millennials-Population von ca. 380 Millionen Menschen hat, also von Menschen, die in den achtziger und neunziger Jahren geboren wurden. Diese Bevölkerungsgruppe verfügt über ein Einkommen, gibt mehr aus als ihre Eltern und ist besser ausgebildet. Darüber hinaus treibt die Regierung die Verstädterung voran. Derzeit leben 60 % der Bevölkerung in Städten, und die Regierung strebt einen Anteil zwischen 70 und 80 % an, weil eine zunehmende Verstädterung hilft, die Inlandsnachfrage anzutreiben. Denn sie hat mehr Nachfrage nach Dienstleistungen und mehr Menschen mit besseren Arbeitsplätzen zur Folge und treibt die Industrialisierung voran. Wir erleben in China einen Konsum-Superzyklus. Besteht nicht die Gefahr, dass der Handelskonflikt noch lange andauert?Es geht in dem Konflikt nicht nur um Handelszölle, was im Prinzip leicht lösbar wäre, sondern auch um einen Kampf um die Technologieführung, der wahrscheinlich lange anhalten wird. Das ist das eigentliche Schlachtfeld in der Auseinandersetzung zwischen den USA und China. Eine Folge ist, dass der Technologieaustausch zwischen beiden Ländern schwieriger wird. Für China bedeutet das, dass es den technologischen Rückstand gegenüber den USA zwischen fünf und zehn Jahren beschleunigt schließen muss. Das Land muss die Ressourcen entsprechend lenken und dafür sorgen, dass mehr in Forschung und Entwicklung investiert wird. Dieser Konflikt ist für die ganze Welt nicht gut, weil die Technologieentwicklung auf globaler Kooperation beruht. In China könnten durch verstärkte Bemühungen der Regierung neue Technologieführer entstehen. Wie setzen Sie das Makrobild in Ihrem A-Aktien-Fonds um?Wir haben vor vier Jahren beschlossen, auf die Inlandsnachfrage zu setzen. Allerdings fahren wir keinen Top-down-Ansatz, sondern suchen nach Qualitätsunternehmen. Tendenziell finden wir sie aber in den folgenden Sektoren: Reise, Gesundheitswesen, im Wealth Management und bei Konsumgütern. Wir beobachten etwa eine stark steigende Nachfrage nach Lebensversicherungen. Die Lebensversicherungsprämien legen in China jedes Jahr prozentual zweistellig zu. Welche Eigenschaften müssen Unternehmen haben, um für Sie von Interesse zu sein?In diesen Themenbereichen finden wir eine Reihe von Qualitätsunternehmen mit starken und nachhaltigen Wettbewerbsvorteilen und starken Marken und guten ESG-Standards (Environment, Social and Governance). Unser Ausgangspunkt bei der Auswahl dieser Unternehmen ist nicht in erster Linie ihre Beteiligung an den beschriebenen Super-Cycle-Sektoren, sondern vor allem ihre intrinsische Qualität und ihre Fähigkeit, ihre Führung langfristig zu erhalten. Das chinesische A-Aktien-Segment bietet sehr attraktive Möglichkeiten, die von ausländischen Investoren kaum erkundet werden. Wie stark wächst der chinesische Reisemarkt?China ist mittlerweile der größte Tourismusmarkt weltweit. Vor fünf Jahren machten die Chinesen noch im Durchschnitt 1,5 Reisen pro Jahr. Heute sind es zwei und mehr. Mehr und mehr Chinesen beantragen Reisepässe. Die Passpenetration ist auf mehr als 10 % gestiegen. Vor zehn Jahren lag sie noch im prozentual einstelligen Bereich. Der chinesische Tourismus spielt sich nicht nur im Ausland ab, sondern umfasst auch Inlandsreisen. Wir halten beispielsweise zwei Flughafenbetreiber im Portfolio, nämlich diejenigen von Schanghai, ein stark positionierter internationaler Flughafen, sowie von Shenzhen, ein inlandsorientierter Flughafen. Flughäfen sind ein Weg, die Story zu spielen. Wir analysieren etliche Flughäfen in Bezug auf ihre Positionierung. Der Schanghaier Flughafen besticht durch ein sehr großes Einzugsgebiet im Flussdelta des Jangtse, zu dem noch etliche andere wohlhabende Großstädte, wie Wuxi und Suzhou, zählen. Sie erwähnten vorhin das Duty-free-Geschäft. Wie kann man da investieren?Das Duty-free-Geschäft ist nicht nur ein Investment in den boomenden Reisemarkt, sondern auch in die Bestrebungen der chinesischen Regierung, einen Teil der Luxuseinkäufe der Chinesen im Ausland zurückzuholen. Viele Chinesen kaufen auf ihren Reisen Luxusgüter in Paris, Mailand et cetera. Die Regierung möchte einen Teil dieser Umsätze vor allem in Kosmetik- und alkoholischen Produkten im Inland sehen. Wir sind in China International Travel Services investiert. Das ist ein Staatsunternehmen mit Monopol im Duty-free-Geschäft. Aufgrund seiner Größe profitiert es von Skaleneffekten. Wenn es Produkte von ausländischen Marken wie Estée Lauder, Hermès et cetera einkauft, hat es Kostenvorteile. China International Travel Services ist ein gutes Beispiel, wie man im Rahmen des Themas Inlandsnachfrage einzelne Unternehmen mit einzigartigen Vorteilen finden kann. Wie sieht es mit Konsumgüterherstellern aus?Auch in dieser Branche gibt es interessante Unternehmen. Wir halten beispielsweise Foshan Haitian Flavouring and Food. Das ist ein Hersteller von in der chinesischen Küche viel genutzten Würzmitteln wie Sojasoße, Essig und Austernsoße. Das Unternehmen ist der größte Anbieter Chinas und damit auch der Welt und profitiert von steigender Nachfrage. Es stellt Sojasoße von hoher Qualität her, indem es unter anderem biologisch angebaute Sojabohnen nutzt. Hinzu kommt die starke Marke des Unternehmens, die eine Geschichte von 200 Jahren hat. Sein Gewinn steigt jedes Jahr durchschnittlich um 20 %. Im Konsumbereich gibt es außerdem interessante Einzelhändler. Wir sind etwa in der landesweit präsenten Supermarktkette Yonghui Superstores investiert, die auf frische Lebensmittel fokussiert ist. Sie erwähnten den Finanzsektor. Wo sind Sie da investiert?Wir konzentrieren unsere Investitionen auf Banken, die sich stärker auf Retail Banking fokussieren. Dazu zählt China Merchants Bank, die in diesem Geschäft stark ist. Außerdem halten wir im Versicherungssektor Ping An, die eine starke Position im Lebensversicherungsgeschäft hat. Gibt es interessante Automobilwerte?Uns gefällt unter anderem Shanghai Automotive (SAIC), ein Hersteller, der Joint Ventures mit Volkswagen und General Motors hat. Aber wir halten auch Zulieferer wie Fuyao Glass, die Glas für Automobile herstellt. Das Unternehmen, das einen Marktanteil von nahezu 60 % in China hat, profitiert davon, markenunabhängig zu sein. Es beliefert auch deutsche Autohersteller weltweit und hat rund um den Globus Produktionsstätten, auch in den USA. Chinesische Technologiewerte haben sich stark entwickelt. Wie sind Sie dort investiert?Wir haben zwei größere Positionen. Ein Unternehmen davon ist Venustech. Es profitiert als Hersteller von Cybersecurity-Software vom Technologiekonflikt zwischen China und den USA. Wenn die Regierung Sorge um Cybersecurity hat, setzt sie auf inländische und nicht auf ausländische Anbieter. Insgesamt hat der Technologiesektor aber nur ein Gewicht von rund 8 % in unserem Portfolio. Unternehmen, deren Exporte auch über Technologiewerte hinausgehen, machen rund 15 % unseres Portfolios aus. Auch wenn die allgemeine Wahrnehmung ist, dass einige der am besten performenden chinesischen Large Caps in den zurückliegenden Jahren Tech-Werte wie Tencent und Alibaba waren, gibt es inländische Konsummarken wie Foshan Haitian und China International Travel Services, die mit Aktiengewinnen von rund 210 % und 260 % eine hervorragende Performance aufweisen. Für Investoren ist es wichtig, auch das eher inlandsorientierte A-Aktien-Segment zu beachten. Sonst entgeht ihnen ein signifikanter Anteil interessanter chinesischer Large Caps. Das Interview führte Christopher Kalbhenn.