IM INTERVIEW: MATTHEW MOBERG, FRANKLIN TEMPLETON INVESTMENTS

"Wir gewichten die Tech-Riesen momentan unter"

US-Innovationsexperte sieht Potenzial für Amazon, aber in anderen Segmenten noch größere Chancen - Kontrovers diskutierte Delivery Hero "vielversprechend"

"Wir gewichten die Tech-Riesen momentan unter"

Der Fondsmanager Matthew Moberg glaubt, dass bei den Bewertungen von US-Digitalriesen wie Amazon ein grundlegendes Missverständnis vorliegt. Die Titel seien nur bei einem kurzfristigen Anlagehorizont teuer, langfristig besäßen sie gewaltiges Potenzial. Derzeit sieht der Innovationsexperte aber in anderen Segmenten noch höhere Chancen, Herr Moberg, was erwarten Sie in den kommenden Monaten von den Aktien der US-Tech-Riesen?Wir gewichten diese Titel gegenüber dem breiten Markt momentan unter – aber nicht, weil wir sie als überbewertet empfinden. Wir sehen anderswo schlichtweg noch größere Chancen. Es ist immer von den extremen Bewertungen im Tech-Segment die Rede, allerdings herrscht am Markt wohl noch ein Missverständnis diesbezüglich vor. Inwiefern?Unternehmen wie Amazon werden noch auf Jahrzehnte gesehen deutlich stärker wachsen als der Markt, da sie bei gleich mehreren Wachstumstreibern eine Vorreiterposition innehaben. In der Dauer des Wachstums besteht der große Irrtum: Während Sell-Side-Analysten üblicherweise auf die kommenden zwei Jahre schauen, versuchen wir, die folgenden sieben bis zehn Jahre im Blick zu behalten. Ich habe im Verlauf meiner Karriere immer wieder gehört, dass die Aktien von Amazon oder Netflix zu teuer sind – bei einem langfristigen Anlagehorizont waren sie dies historisch aber mitnichten. Welchen Einfluss hat der Ausgang der US-Wahl auf Tech-Aktien?Grundsätzlich ist ein republikanischer Senat und damit ein sogenannter Gridlock, bei dem ständig um politische Kompromisse gerungen werden muss, gut für die Märkte. Viele Unternehmen, die eine stärkere Regulierung befürchtet haben, darunter Facebook, dürften nun Zeit bis zur nächsten Kongresswahl in zwei Jahren gewonnen haben. Den Konzernen ist daran gelegen, offene Problematiken, die künftig unter staatliche Regulierung fallen könnten, schon vorab selbst zu regeln. Wie wird sich der IPO-Markt im Digitalsektor in den kommenden Monaten entwickeln?Der abgeblasene Börsengang des chinesischen Zahlungsdienstleisters Ant Financial ist natürlich ein herber Rückschlag. Der Vorgang macht einmal mehr die politischen Risiken deutlich, die mit Investitionen in China verbunden sind. Allerdings ist unser Enthusiasmus für chinesische Digitalwerte damit nicht erloschen – schließlich wird die chinesische Regierung das Wachstum der inländischen Tech-Branche auch künftig fördern. In Bezug auf den globalen IPO-Markt ist die Lage noch offen, auch hier schadet die Pattsituation im US-Kongress der Stimmung aber sicher nicht. Weil Sie Amazon bereits erwähnt haben: Worin bestehen denn künftig die größten Treiber für das Wachstum des Versandriesen?Die Cloud-Computing-Tochter Amazon Web Services hat sicherlich noch Jahrzehnte an Ausbaupotenzial vor sich. Das technologische Angebot ist vergleichbar mit einem gewaltigen Energienetzwerk, das künftig jeder wird nutzen können, ohne auf seinen eigenen ineffizienten Stromgenerator, das heißt lokalen Server, angewiesen zu sein. Hinzu kommen ertragsreiche Funktionen wie die Datenanalyse. Außerdem hat Amazon gewaltiges Potenzial im Werbemarkt, das sich langsam entfaltet und bei Facebook oder Google schon seit Jahren gewaltige Ertragsquelle ist. Es handelt sich dabei um ein äußerst profitables Geschäft mit Margen von nahezu 100 %. Wie beurteilen Sie denn das Potenzial im Kerngeschäft E-Commerce?Der Präsenzausbau in bestehenden Segmenten wie dem Buchhandel oder Büro-Utensilien ist für Amazon dabei weitaus weniger entscheidend als ein stärkeres Engagement in neuen Bereichen. Dazu zählt der Online-Einkauf von Lebensmitteln. Glauben Sie, dass der Trend dazu wirklich über die Dauer der Corona-Pandemie Bestand hat?Auf jeden Fall, anders als bei Plattformbetreibern, die zum Beispiel Möbel anbieten und von der plötzlichen Nachfrage nach Homeoffice-Einrichtung profitiert haben, besteht im Lebensmittelversand nicht nur ein Einmaleffekt. Natürlich ziehen die Konsumenten den Gang zum Supermarkt weiter vor. Sich online durch seine Präferenzen für bestimmte Güter zu klicken, ist schließlich aufwendig – da ist es für die meisten Verbraucher weitaus effizienterer, die Produkte vor Ort in Augenschein zu nehmen. Doch die Coronakrise sorgt für einen strukturellen Wandel: Wer früher zweimal pro Woche in den Supermarkt gegangen ist, tut dies aktuell möglicherweise gar nicht mehr. Nun, da die Menschen gezwungenermaßen Erfahrungen damit machen, ihre Haushalts- und Lebensmitteleinkäufe online zu erledigen, werden sie künftig wohl nur noch für frische Produkte in den Supermarkt gehen und den Rest über Portale wie Amazon bestellen. Klingt nach starken Argumenten für Amazon. Welche sind denn die angesprochenen Titel, bei denen Sie noch mehr Potenzial sehen?Ein gutes Beispiel ist Shopify, mit deren Software kleine und mittelständische Händler Online-Shops erstellen und die Logistik auslagern können. Für sie war der Aufbau einer Digitalpräsenz zuvor eine gewaltige Aufgabe, für die sie weder Zeit noch Ressourcen hatten – obwohl das Thema für diese Unternehmen von größter Wichtigkeit ist. In Coronazeiten haben die Händler mit Software wie jener von Shopify zwangsläufig aber doch Online-Shops aufgebaut, die nun nicht mehr so schnell vom Netz genommen werden. Selbst Unternehmer, die ihr Geschäft infolge der Pandemie aufgeben mussten, werden durch ihre Krisenerfahrung bei Neugründungen gleich eine Digitalpräsenz aufbauen. Wo bestehen denn abseits der E-Commerce-Dienstleister die größten Chancen?Viele Wachstumssegmente im Markt sind stark miteinander verknüpft, somit profitieren auch andere Bereiche vom Boom des Online-Handels. Dazu zählen die Zahlungsdienstleister – Paypal und Square beispielsweise haben in der Coronazeit noch einmal viel nachhaltigen Schwung erhalten. Anbieter von Energiespeicherung und Batterietechnologie werden ebenso gestärkt aus der Krise hervorgehen. Und im Internet der Dinge und in künstlicher Intelligenz liegt gewaltiges Potenzial, das auch in anderen vielversprechenden Sektoren wie Healthcare zum Einsatz kommt. Beispielsweise gibt es inzwischen Robotik-Lösungen, die komplizierte Operationen auf einer Ebene ermöglichen, die mit dem bloßen Auge überhaupt nicht erkennbar ist. Welche europäischen Digitalwerte halten Sie für interessant?Auch in Europa gibt es Zahlungsdienstleister mit großem Potenzial wie Adyen, hinzu kommen Plattformbetreiber wie Zalando. Ein kontrovers diskutierter Wert, den wir für vielversprechend halten, ist Delivery Hero. Die Diskussion dreht sich unter anderem darum, dass das Unternehmen im Herkunftsland Deutschland überhaupt kein Geschäft mehr betreibt – aber auch Facebook generiert beispielsweise nur einen kleinen Teil seines Umsatzes in den USA. Bei Delivery Hero ist gerade die Fähigkeit interessant, bisher wenig erschlossene Märkte ausfindig zu machen und zu erschließen. Ebenfalls findig zeigen sich Vertreter der Gaming-Branche. Wie beurteilen Sie deren Aussichten?Sehr optimistisch. Streaming-Anbieter wie Netflix sehen die Spieleentwickler bereits als ernstzunehmende Wettbewerber um die Zeit der Konsumenten. Tatsächlich ist der technologische Fortschritt in den vergangenen beiden Jahrzehnten gewaltig, die Grafik entspricht inzwischen fast Spielfilmniveau. Damit wird die Spielerfahrung extrem intensiv – Nutzer sind folglich bereit, deutlich mehr Zeit darauf zu verwenden als früher. Zugleich wachsen auch die Gelegenheiten zur Monetarisierung im Gaming-Markt. Was bedeutet das konkret?Durch In-Game-Käufe hat sich das Geschäftsmodell der Entwickler komplett verändert. Statt in den Laden zu gehen und sich ein Spiel für 50 oder 60 Euro zukaufen, laden die Nutzer heute Inhalte kostenlos herunter und geben im Verlauf des Spiels regelmäßig Geld für neue Outfits oder Fähigkeiten aus. Die Einkommensströme der Gaming-Unternehmen aus einem einzigen Titel erstrecken sich also konstant über einen viel längeren Zeitraum. Dabei sind Videospiele auf die Zeit gerechnet für Nutzer immer noch günstiger als beispielsweise Kinokarten. Worin bestehen denn die größten Risiken im Gaming-Markt?Es gibt natürlich immer unternehmensspezifische Risiken – zum Beispiel dass Kunden einen eigentlich als langfristige Einkommensquelle geplanten Titel nicht richtig annehmen. Auch kann für einige Entwickler der Zielmarkt durch Regulierungen wie Altersfreigaben schrumpfen. Im Großen und Ganzen fallen diese Gefahren aber gering aus. Die Zahl an Videospielern wächst gewaltig, hinzu erstreckt sich die Kundschaft inzwischen auch auf eine ältere, zahlungskräftigere Gruppe. Das reflektiert auch die extrem starke Performance vieler Spieleentwickler und -publisher in den vergangenen Jahren am Aktienmarkt. Sie sind auch in anderen innovativen Sektoren investiert. Welche Entwicklungen sind derzeit besonders interessant?Die DNA-Sequenzierung hat das Potenzial, einen der größten Umbrüche unserer Zeit auszulösen. Die Struktur der Doppelhelix wurde vor nicht einmal 70 Jahren entschlüsselt, nun sind Forscher in der Lage, umfangreiche diagnostische und therapeutische Lösungen zu entwickeln. Die Mittel für Recherche und Entwicklung werden mittlerweile stärker demokratisiert aufgeteilt und kommen in Feldern zur Anwendung, auf denen viele Beobachter sie sicher nicht erwartet hätten – zum Beispiel bei der Bekämpfung von Malaria. Und auch in der Agrarwissenschaft und Landwirtschaft sind die Chancen durch Genomik gewaltig. Das Interview führte Alex Wehnert