"Wir haben ein Riesenproblem"

Experten der Schweizer Privatbank Pictet kritisieren Ultraniedrigzinspolitik der Notenbanken scharf

"Wir haben ein Riesenproblem"

ku Frankfurt – Heftige Kritik an der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) und anderer Notenbanken haben die Strategen der schweizerischen Privatbank Pictet geäußert. Durch deren Ultraniedrigzinspolitik sei der Markt für klassische Staatsanleihen kaputtgemacht worden. “Wir haben ein Riesenproblem”, beklagte Alfred Roelli, Sprecher für Finanzanalyse der Bank, gestern in Frankfurt. Negative Realzinsen folgten dem Muster der finanziellen Repression und führten zu partieller Enteignung der Sparer. Nullzinsen bedeuteten einen niedrigeren Barwert von Ersparnissen. Wollten die Sparer dem entgegenhalten, müssten sie mehr sparen. Zudem wirkten die hohen Schuldenstände verunsichernd wegen der befürchteten Steuererhöhungen. Folge seien gedrückte Investitionen und Konsumausgaben sowie eine aufgeblähte Nachfrage nach sicheren Anlageformen und Liquidität. Dies führe weltweit zu einem Überschuss der Nettoersparnis. “Die Notenbanken verschärfen dies mit negativen Zinsen und mit ihren Anleihekäufen”.Nach dem Markt für Staatsanleihen sehen die Experten von Pictet nun auch Gefahren für Unternehmensanleihen. Diese Titel seien bei den aktuellen Renditen nicht mehr handelbar. Rund ein Drittel sämtlicher Unternehmensanleihen mit Investment-Grade-Rating sowie unter Ausklammerung von Finanztiteln werde auf einer Renditebasis von unter 0,5 % gehandelt. Es tauchten bereits die ersten Anleihen unter der Nullgrenze auf, was Roelli auf die Käufe von Unternehmensanleihen durch die EZB zurückführt. Wenn die EZB weiter so vorgehe, werde es in ungefähr einem Jahr am europäischen Markt für Corporate Bonds eine Situation geben wie in Japan. Die Analysten schließen nicht aus, dass sich der Anteil der EZB am Gesamtmarkt europäischer Unternehmensanleihen in Richtung 40 % entwickeln könne. Schuldenschnitt erforderlichZu der Schuldenkrise, die der Niedrigzinspolitik zugrunde liegt, sagt Roelli, es gebe keinen Ausweg, der an Schuldenschnitten vorbei führe. Dies gelte nicht nur für Länder wie Griechenland, sondern auch für Japan, wo die Bank von Japan bereits der größte Halter von Staatsanleihen sei. Im Gegensatz zu den meisten Analysten halten es die Experten von Pictet aber nicht für eine ausgemachte Sache, dass die Inflation und damit die Renditen auf Dauer extrem niedrig bleiben. Sie verweisen darauf, dass die Erwartungen der Marktteilnehmer und Ökonomen auch in der Vergangenheit schon falsch gewesen seien. In wichtigen Regionen wie den USA und China setze sich eine Lohn-Preis-Spirale in Gang, wegen kräftiger Gehaltserhöhungen vor allem in China. Dadurch könne hinsichtlich der Inflationsraten ein “Wendeprozess” in Gang kommen, wobei sich die Analysten aber nicht auf einen Zeitraum für diese Entwicklung festlegen wollen.Grundsätzlich zeigen sich Roelli und Kapitalmarktexpertin Veronika Schachenmayr-Schlick für die weltweite Konjunkturentwicklung optimistischer als viele andere Experten. Für China, eines der beiden Schwungräder der Weltwirtschaft, gehen sie von einem Wirtschaftswachstum von 6,5 bis 7 % aus. Auch für den laufenden Strukturwandel der chinesischen Volkswirtschaft sind sie optimistisch: “China wird den Übergang von einer Industriegesellschaft hin zu einer Dienstleistungswirtschaft schaffen”, erwartet Roelli. Sowohl für die USA als auch die Eurozone geht man bei Pictet für das laufende Jahr von 1,8 % Wirtschaftswachstum aus.Als größte Gefahr wird der Austritt Großbritanniens aus der EU (Brexit) angesehen. Nach den Erwartungen der Analysten wird ein solches Ereignis beim Wirtschaftswachstum der Eurozone im laufenden und kommenden Jahr aber nur jeweils 0,2 % Punkte kosten. Als wesentlich gravierender werden die Auswirkungen für Großbritannien angesehen. Im laufenden Jahr würde der Anstieg des Bruttoinlandsproduktes statt 1,9 % wohl dann nur noch 0,1 % betragen, 2017 statt 2,2 % nur 0,7 %. An den Kapitalmärkten wären die Hauptopfer laut Pictet das britische Pfund, das stark unter Druck geraten würde, und der Schweizer Franken, der nochmals zu einem kräftigen Höhenflug ansetzen würde. Was die Aktienmärkte betrifft, so ist nach Einschätzung der Privatbank wohl bereits mehr als die Hälfte der Auswirkungen eines solchen Ereignisses eingepreist.Mit Blick auf die erwartete mittelfristig positive Konjunkturentwicklung halten die Experten Aktien für besonders attraktiv. Der langfristige Aufwärtstrend sei intakt. Die Bedeutung von Dividenden für den Anleger sei nicht zu unterschätzen.