IM INTERVIEW: OSWALD GRÜBEL

"Wir könnten heftigere Kursschwankungen erleben"

Wie die Banker-Legende die Wirkung der US-Wahlen einschätzt, warum ihn die globale Verschuldung besorgt und weshalb er widerwillig auch in Gold investiert

"Wir könnten heftigere Kursschwankungen erleben"

Im Interview der Börsen-Zeitung erläutert der inzwischen als privater Investor tätige ehemalige Credit-Suisse- und UBS-Chef Oswald Grübel, welche Gefahren er für die Kapitalmärkte in der gegenwärtigen Situation wahrnimmt. Herr Grübel, die Börsen haben ein weiteres Rekordjahr hinter sich. Können die Kurse überhaupt noch fallen?Natürlich können sie das, und das ergibt dann wieder Kaufgelegenheiten. Zurzeit warnen viele Ökonomen und Finanzmarktstrategen vor einer Korrektur – zum Glück. Denn solange es viele Experten gibt, die den Aktienmärkten eine Überbewertung diagnostizieren, steigen die Börsen normalerweise noch eine Weile weiter. Sie sagen “normalerweise”. Glauben Sie selbst auch nicht daran?Jeder sieht natürlich, dass die Aktienkurse im vergangenen Jahr weit mehr gestiegen sind, als sich die Gewinnaussichten der Unternehmen verbessert haben. Für die Märkte wird es immer schwieriger, große Fortschritte zu machen. Es stehen ja auch wegweisende politische Entscheidungen an. Wie wichtig sind die Präsidentschaftswahlen in den USA für die Börsen?Sehr wichtig, und zwar für alle Börsen weltweit. Wenn sich die Mehrheitsmeinung herausbilden sollte, dass Trumps Wiederwahl gefährdet ist, würden die Börsen ziemlich stark korrigieren. Irgendwann ab Frühjahr könnten wir heftigere Kursschwankungen erleben, die unter Umständen gute Kaufgelegenheiten sein werden. Aber über das ganze Jahr gesehen wird es nicht so einfach sein wie 2019. Vor den Präsidentschaftswahlen in den USA muss ja noch der Brexit bewerkstelligt werden. Wie viel kann da schiefgehen?Einiges. Weder die EU noch Großbritannien können sich über die Auswirkungen dieses Ereignisses ganz sicher sein. Klar ist nur, dass die zweitstärkste Wirtschaft Europas die EU verlassen wird. Das ist ein Risiko für die EU, zumal die Perspektiven der europäischen Industrie ohnehin nicht sehr gut sind. Deutschland erwartet zum Beispiel ein Wachstum für 2020 von nur gerade 0,6 %. Das kann schnell ins Negative kippen. Die Nerven der Investoren sind jedenfalls sehr angespannt. Donald Trump hat mit seiner Steuerreform nicht zuletzt die Börsen angeheizt. War das nachhaltig?Tatsächlich haben viele US-Firmen mit den aus dem Ausland zurückgeholten Gewinnen vor allem eigene Aktien zurückgekauft. Sie hätten natürlich auch Schulden zurückzahlen können. Aber bei diesen tiefen Zinssätzen ist die Motivation dazu eben an einem kleinen Ort. Selbst reiche Firmen wie Apple borgen sich heutzutage Geld, weil es zu billig ist. Leider hat das auch den Effekt, dass sich schlechte Unternehmen weiter verschulden können und zum Marktrisiko werden. Wie gefährlich ist diese Entwicklung?Die Zunahme der globalen Verschuldung ist beunruhigend. Die Rettung der Banca Popolare di Bari ist ein aktuelles Beispiel dafür, welchen Schaden die extrem tiefen Zinsen anrichten. Da wird eine kleine, regionale Volksbank in Italien mit 900 Mill. Euro gerettet. Das ist eine riesige Summe in Relation zu der Größe der Bank. Stellen Sie sich nur das Ausmaß der Interventionen vor, wenn hunderte solcher Banken gleichzeitig gerettet werden müssen. Das hatten wir doch schon. Befürchten Sie eine Neuauflage der Finanzkrise?Ich sehe nur, dass wir aus den Fehlern der vorigen Krise nicht die richtigen Lehren gezogen haben. Ich bin mir sicher, dass es ein Fehler war, die Zinsen so weit fallen zu lassen. Wenn das Geld keinen Wert mehr hat, werden schlechte Investitionen gemacht oder weiter unterstützt, wie jetzt in Italien. Mit der Rettung einer Bank werden immerhin auch die Spargelder von kleinen Leuten gerettet. Wie sieht es mit wahnwitzigen Investitionen aus, die nur den schnellen Profit suchen?Auch davon gibt es zu viele. Schauen Sie sich nur Firmen wie Uber oder Wework an. Wework verliert etwa gleich viel Geld pro Jahr, wie die Firma an Umsatz erzielt. Das sind Geschäftsmodelle, die man den Investoren zum letzten Mal vor 20 Jahren verkaufen konnte. Doch damals befanden sich die Börsen in der großen Interneteuphorie. Der Boom endete in einem kolossalen Desaster. Damals wie heute ist viel von neuen Technologien die Rede. Und die Leute, die diese Geschäftsmodelle feilbieten, sind typischerweise auch sehr gute Verkäufer. Sie sagten, dass im aktuellen Tiefzinsumfeld auch Firmen weiterexistieren können, die in ihrem Geschäft kein Geld mehr verdienen. Ist auch Thyssenkrupp so ein Fall?Das weiß ich nicht, aber tiefe Zinsen machen es einfacher, Verluste zu finanzieren. Thyssenkrupp hatte sich im Stahlgeschäft erst einmal vergrößert, obwohl die Probleme im Markt schon vor 20 Jahren erkennbar waren. Man erhoffte sich, mit einer solchen Flucht nach vorne die nötige Größe zu erreichen, um in dem kompetitiver werdenden Geschäft bestehen zu können. Die richtige Antwort wäre aber gewesen, mehr zu diversifizieren. Gehört auch der traditionsreiche amerikanische Ketchup-Hersteller Kraft Heinz in diese Kategorie? Auch diese Firma ist ja nur noch ein Schatten ihrer selbst.Nein. Die Probleme von Kraft Heinz gehen auf die Übernahme von Heinz durch Warren Buffett und Jorge Lemann im Jahr 2013 zurück. Buffett war immer beeindruckt von großen Markennamen, die alle Stürme überstehen. So dachte er wohl auch, dass der beste Ketchup der Welt immer nur aus einer Heinz-Flasche kommen könne. Doch der Preis der Übernahme war einfach viel zu hoch. Durch die Fusion mit Kraft Foods im Jahr 2015 sind die Schulden des Unternehmens noch weiter gestiegen, ohne dass sich der erhoffte Geschäftserfolg eingestellt hat. Offenbar können sich also auch Investorenlegenden wie Warren Buffett mächtig täuschen.So sieht es aus. Aber auf der aktuellen Bewertungsbasis kann man Kraft Heinz kaufen. Der Titel ist jetzt ein Value Stock. Auch bei Nestlé wird der Schuldenberg schnell größer. Ist das ein Warnzeichen?Die Zahlen sehen tatsächlich sehr ähnlich aus. Aber ich erwarte, dass sich auch die europäischen Firmen bei dem tiefen Zinsniveau mehr und mehr verschulden werden. Das ist unter der Annahme, dass die Zinsen tief bleiben und die Geschäfte gut laufen, auch nicht unbedingt unvernünftig. Nur werden Firmen mit zu hohen Schuldenständen verletzlicher, wenn irgendetwas schiefgeht. Reden wir noch über die Luxusgüterindustrie. LVMH war 2019 der zweitbeste Standardwert Europas mit einem Kursgewinn von über 60 %.Aus gutem Grund. Die Zahl der Milliardäre und der Multimillionäre wächst von Jahr zu Jahr, und die Gewinnmargen im Luxusgütergeschäft sind wahnsinnig hoch. LVMH hat in den vergangenen Jahren auch viele Designer-Labels und bekannte Schmuckmarken aufgekauft und deren Wert mit einem guten Managementsystem gesteigert. Ein Treiber des Erfolgs war natürlich auch die Globalisierung. In Ländern wie China, wo ein großer Teil des neuen Reichtums geschaffen wird, tragen Konsumenten Luxusmarken auch als Zeichen des persönlichen wirtschaftlichen Erfolges. Zu den großen Enttäuschungen des vergangenen Börsenjahres gehören einmal mehr die Bankaktien. Die Großbankentitel haben sich kaum bewegt, ebenso die Papiere der Deutschen Bank. Was ist los mit den Banken?Die Gewinnaussichten sind unverändert bescheiden. Niemand erwartet, dass diese Banken ihre Gewinne stark steigern können. Verdienen die Banken genug, um in zehn Jahren noch da sein zu können?Selbstverständlich, aber in Europa müssen die Banken weiter konsolidieren. Der durch die Regulierung forcierte Ausstieg aus den sogenannten Risikogeschäften zwingt die Institute, immer mehr die Gebühren für risikolose Kundenaufträge zu erhöhen. Die Kommissionen, die unsere Banken noch berechnen können, sind jenseits von Gut und Böse. Aber die Zeichen stehen an der Wand, dass dies so nicht mehr lang möglich sein wird. Der große amerikanische Broker Charles Schwab verlangt neuerdings keine Kommissionen auf Aktiengeschäfte mehr und ist mit seiner Bewertung von 62 Mrd. Dollar höher bewertet als die Schweizer Großbanken. Wie sollen die Banken das überleben?Sie werden den Aufsichtsbehörden klarmachen müssen, dass sie das Risiko nicht nur auf Kredite beschränken können, sondern es diversifizieren müssen. Ansonsten dreht sich die Spirale weiter nach unten. Um da herauszukommen, müssen schnell neue Geschäftsmodelle her. Solange die nicht gefunden sind, werden die Banken auch nicht viel mehr verdienen, und die Aktienkurse bleiben tief. Wie sehen Sie die Perspektiven der Autoindustrie? Die Kurse von Daimler, VW oder BMW sind auf eine Sicht von zwei Jahren ebenfalls eine große Enttäuschung.Sie haben recht. Die Titel haben sich zwar von ihren Tiefkursen schön erholt, aber das war es dann auch schon. Der schnelle Umbau der Industrie auf die Elektromobilität macht die Unternehmen nicht stärker. Meinen Sie schwächer?Die mit deutscher Gründlichkeit forcierte Umstellung auf die Elektromobilität ist nicht gut für die Autohersteller. Wir werden noch sehen, dass dies nicht ohne große Staatssubventionen, Verluste und auch nicht ohne große Jobverluste gehen wird. Die Firmen scheinen dies im Moment noch etwas gelassener zu sehen. Vielleicht denken sie, dass sie mit weniger Leuten billiger produzieren und mehr Profit machen können. Aber in Deutschland will man ja nicht das billigste und das zweckmäßigste, sondern das komfortabelste und beste Elektroauto bauen, weil man das so gewohnt ist. Ob diese Premiumstrategie aber auch mit Elektroautos funktionieren wird, werden wir noch sehen. Bezweifeln Sie es?Ja. Die Fahrt mit einem Elektroauto ist ein anderes Erlebnis als mit einem Benziner. Man wird die E-Fahrzeuge zuerst vor allem für kurze Strecken benutzen, und da braucht man nicht den ausgebauten Komfort, wie er in den aktuellen deutschen Premiummodellen steckt. Was sollte ein Anleger nebst guten Aktien auch noch besitzen?Ich halte immer etwas Gold, allerdings nur in der Hoffnung, dass ich es nie brauche. Ich sehe Gold als eine Art Versicherungsprämie für den schlimmsten Fall. Aber wir sollten uns wünschen, dass der Preis des Goldes niedrig bleibt. Dann so können wir einigermaßen sicher sein, dass die Welt noch in Ordnung ist. Wenn der Preis aber heftig steigen würde, wäre dies ein Zeichen für Geldentwertung. Das kann sich keiner wünschen. Und was braucht keiner?Anleihen. Bei diesen tiefen Zinsen sind Bonds ausgereizt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kurse fallen, ist viel größer als das Gegenteil. Die Kurse können auch fallen, wenn die Zentralbankzinssätze so tief bleiben wie heute. Dann zum Beispiel, wenn sich im Markt ein Konsens darüber bildet, dass sich die Qualität der Schuldner verschlechtert. Das Interview führte Daniel Zulauf.