„Wir müssen die Einstellung zum Investieren in Europa ändern“
Kai Johannsen.
Frau Becker, die LGX existiert seit mehr als einem halben Jahrzehnt. Welche Meilensteine haben Sie in dieser Zeit gesetzt?
In den vergangenen fünf Jahren ist die LGX in Sachen Ausrichtung, Reichweite und Wirkung exponentiell gewachsen. Als wir die LGX auf den Markt brachten, war es eine Plattform, die nur grünen Anleihen gewidmet war. Seitdem haben wir die Plattform um spezielle Segmente für soziale, nachhaltige und nachhaltigkeitsgebundene Anleihen, Impact- und ESG-Fonds erweitert und einen Bereich für klimaorientierte Emittenten geschaffen. Die LGX bedient eine ständig wachsende Zahl von Emittenten und zählt derzeit 230 Emittenten aus 50 Ländern. Und in puncto Impact blicken wir seit Januar dieses Jahres an der LGX auf 2600 nachhaltige Wertpapiere, darunter 1260 nachhaltige Bonds, deren Werte von insgesamt 665 Mrd. Euro für grüne und soziale Projekte und nachhaltige Entwicklung weltweit stehen.
Und Ihre jüngsten Errungenschaften?
In den vorigen zwei Jahren ist die LGX über die reine Aufnahme nachhaltiger Wertpapiere und damit die Zurverfügungstellung nachhaltiger Investitionen hinausgegangen, um die Haupthindernisse für nachhaltige Finanzen anzugehen, nämlich Bildung und Zugang zu strukturierten Nachhaltigkeitsdaten. Im Mai 2020 haben wir die LGX Academy ins Leben gerufen, um die Bildung für nachhaltige Finanzen zu fördern. Im September 2020 haben wir den LGX Data Hub gestartet, um Investoren und Vermögensverwaltern Zugang zu strukturierten Nachhaltigkeitsdaten anzubieten. Heute umfasst unsere Datenbank strukturierte Nachhaltigkeitsdaten zu mehr als 5400 Bonds von 1500 Emittenten weltweit, also nahezu das gesamte Universum der weltweit börsennotierten nachhaltigen Anleihen.
Wie sieht es mit internationaler Kooperation aus?
Wir nutzen unsere Erfahrung, um die Entwicklung nachhaltiger Finanzmärkte in Schwellenländern zu unterstützen. Wir arbeiten eng mit Institutionen und Börsen in Cabo Verde, Nigeria, Indien, Chile, Vietnam und China zusammen. Das hat uns Anerkennung für unsere Arbeit im Bereich Sustainable Finance gebracht. Die LGX wurde von den UN im Rahmen der UN Global Climate Action Awards 2020 in der Kategorie Finanzierung für klimafreundliche Investitionen ausgezeichnet, und wir wurden fünf Jahre in Folge – von 2017 bis 2021 – zur Exchange of the Year by Environmental Finance Bond Awards gekürt.
Und in Sachen Emittenten?
Wir sind die bevorzugte Plattform für eine Reihe renommierter Emittenten der öffentlichen Hand einschließlich der EU. Dazu gehört die grüne Anleihe der Europäischen Kommission über 12 Mrd. Euro, die im Oktober 2021 im Rahmen des Konjunkturprogramms Next Generation EU begeben wurde und die bisher die weltweit größte grüne Anleihe ist. Die Europäische Kommission hat im Rahmen des EU-Sure-Programms auch Social Bonds über 90 Mrd. Euro begeben, die alle bei uns gelistet sind. Im November 2021 traten wir auf der COP26 in Glasgow der Net Zero Financial Service Providers Alliance bei, die Teil der Glasgow Financial Alliance for Net Zero – GFANZ – ist. Dies ist ein wichtiges Engagement, das unsere künftigen Aktionen und Initiativen leiten wird. Schließlich war 2021 ein sehr starkes Jahr für nachhaltige Finanzen, und dies spiegelte sich auch bei LGX wider.
Das heißt?
2021 listeten wir allein 560 neue grüne, soziale und nachhaltige bzw. nachhaltigkeitsgebundene Anleihen – eine Steigerung um 47% gegenüber 2020. Diese 560 Wertpapiere erreichten einen LGX-Volumenrekord von 246 Mrd. Euro, die in einem einzigen Jahr für grüne und soziale Projekte aufgebracht wurden – ein Volumenplus von 31% im Vorjahresvergleich.
Wo wollen Sie mit LGX in fünf Jahren stehen?
Nachhaltigkeit ist weiter unsere strategische und operative Priorität. Wir haben in den vergangenen fünf Jahren viel erreicht, aber es gibt noch viel zu tun, wenn wir die globalen Nachhaltigkeitsziele der UN und des Pariser Klimaabkommens realisieren wollen. In den nächsten Monaten und Jahren werden wir die LGX Academy weiter aufbauen und stärken sowie die Abdeckung und die Funktionen des LGX Data Hub erhöhen. Außerdem haben wir im September 2021 die LGX Assistance Services eingeführt, um Emittenten zu helfen, die nachhaltige Wertpapiere begeben möchten, denen aber das Wissen und die Ressourcen dafür fehlen. Dieses Programm wird in den nächsten Monaten und Jahren schnell wachsen, da auf dem Markt eine klare Nachfrage nach dieser Art von Unterstützung besteht. Immer mehr Emittenten suchen nach klimaneutralen Finanzierungsmöglichkeiten für ihren Übergang. Wir positionieren uns damit für ein End-to-End-Unterstützungsprogramm für neue Emittenten nachhaltiger Wertpapiere.
Das heißt, Sie kommen auf Transferleistungen?
Ja, diese Dienstleistungen knüpfen an unsere Arbeit mit der LGX Academy an. Zuerst behandeln wir die Theorie, und dann bieten wir eine Art Unterstützungsprogramm an, bei dem Marktakteure das erworbene Wissen anwenden können. Zudem wird unser Fokus auf Schwellenländermärkte noch größer werden. Denn wenn wir die globalen Ziele erreichen wollen, ist internationale Zusammenarbeit der Schlüssel dazu. Wir werden unsere Erfahrungen teilen und zum Aufbau eines Marktes für nachhaltige Finanzen in Schwellenländern beitragen. Ich bin überzeugt, dass in Zukunft alle Finanzierungen standardmäßig nachhaltig sein werden. Wir arbeiten daran, dass dies Realität wird.
Seit Ende April vorigen Jahres sind Sie Vorstandsvorsitzende der Luxemburger Börse. Was sind Ihre strategischen Pläne?
Neben der Erhaltung unserer Position als führender Listingplatz für internationale Bonds und als Referenz für nachhaltige Finanzen besteht die übergeordnete Priorität für uns darin, den zweifachen Übergang zu realisieren: Klimawandel einerseits und digitaler Wandel andererseits. Beides ist sehr wichtig und wird neue Lösungen erfordern und Börsen auf unterschiedliche Weise beeinflussen. Beim Thema Nachhaltigkeit haben wir uns mittelfristig zwei Ziele gesetzt. Wir werden den Beitrag aller unserer Emittenten zu den UN-Nachhaltigkeitszielen analysieren und mit ihnen zusammenarbeiten, um ihren Übergang zu beschleunigen und einen klaren Weg zur Klimaneutralität zu definieren. Wir werden auch dazu beitragen, die Kapitalströme auf nachhaltige Entwicklungsprojekte umzulenken und den Kapitalfluss von Industrie- in Schwellenländer zu beschleunigen.
Das heißt konkret?
Eines unserer Ziele ist der Aufbau von Kapazitäten und die Schaffung nachhaltiger Kapitalmärkte in Entwicklungsländern. Internationale Zusammenarbeit und Partnerschaften von Börsen sind dabei unerlässlich. Eine weitere Priorität ist, zur Konvergenz von Standards für nachhaltige Finanzen, Reporting-Rahmen sowie zur Harmonisierung von Definitionen in verschiedenen Regionen der Welt beizutragen. Dies ist notwendig, um nachhaltige Finanzen zum Mainstream zu machen. Die Digitalisierung hat für uns höchste Priorität, und wir werden von neuen Technologien profitieren, um den Listingprozess und das Reporting für Emittenten zu vereinfachen und neue Datendienstleistungen zu entwickeln. Denn Daten spielen eine entscheidende Rolle auf den Finanzmärkten, und wir wollen relevante und aussagekräftige Daten leichter verfügbar machen – Nachhaltigkeitsdaten sind ein Teil davon.
Was bedeutet das für Ihre technische Infrastruktur?
Unsere technische Infrastruktur haben wir in den vorigen Jahren in die Cloud verlagert. Wir konzentrieren uns auf die Verbesserung der Konnektivität, Flexibilität und Geschwindigkeit, sowohl für unsere Kunden als auch unsere Teams. Wir passen unsere Dienstleistungen ständig an Kundenbedürfnisse an und tragen dazu bei, ihre Aufgaben und den Listingprozess effizienter zu gestalten.
Was heißt das für die Praxis?
Wir bieten ein E-Listing-Tool an, mit dem Emittenten den Listingprozess vollständig online durchführen können. Durch unsere Beteiligung an Origin, einem in London ansässigen Fintech, das daran arbeitet, den Bondemissionsprozess zu rationalisieren und zu digitalisieren, können Emittenten jetzt über die Plattform von Origin das „Listing in a Click“ umsetzen. Im März 2021 haben wir die erste vollständig digitale Notierung einer Anleihe über die Plattform von Origin erfolgreich abgeschlossen – ein Meilenstein.
Ist „Investing in a Click“ damit nicht das notwendige Gegenstück?
Sicher. Im Rahmen des Projekts Kapitalmarktunion, das auch eine Fokussierung auf Kleinanleger beinhaltet, stelle ich mir eine Zukunft vor, in der wir Anlegern ermöglichen könnten, „mit einem Klick zu investieren“. Die Welt und die Kapitalmärkte werden immer digitaler, also geht es darum, mit diesem Bedarf an mehr digitalen Möglichkeiten und integrativeren Kapitalmärkten Schritt zu halten. Unsere Rolle als Börse bestand schon immer darin, den Emittenten den Zugang zur Marktfinanzierung zu erleichtern und gleichzeitig Anlegern Transparenz zu bieten. Wenn wir unsere Märkte für Privatanleger und die breite Öffentlichkeit zugänglicher machen könnten, würden wir jedem die Möglichkeit geben, seine Ersparnisse für die Realwirtschaft einzusetzen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen, Wachstum und Entwicklung beizutragen. Viele junge Menschen würden gerne investieren, sind digital versiert, und wir müssen uns Gedanken machen, wie wir sie einbinden können. Ganz allgemein müssen wir die Einstellung zum Investieren in Europa ändern. Börsen spielen hier eine wichtige Rolle.
Wie geht es technologisch weiter?
Im Hinblick auf neue Technologien feierten wir Anfang Februar die Aufnahme der ersten DLT-Finanzinstrumente in unsere Securities Official List oder LuxSE SOL. Obwohl diese Wertpapiere nicht an unserer Börse gehandelt werden können, sind wir die erste in der EU ansässige Börse, die DLT-Wertpapiere zulässt, was DLT-Instrumenten und ihren Emittenten wichtige Visibilität verleiht und die Verbreitung von indikativen Kursen und Wertpapierdaten zu dieser neuen Form von Finanzinstrumenten erleichtert. Das ist der erste Schritt in unserem Beitrag zur Digitalisierung der Kapitalmärkte und zur Mainstream-Bildung von DLT-Wertpapieren. Neben der Zulassung von DLT-Wertpapieren analysieren wir auch andere DLT-Anwendungsmöglichkeiten und Dienstleistungen und planen, im Laufe des Jahres weitere Neuerungen ankündigen zu können.
Nachhaltigkeit ist für Sie das zentrale Thema für Finanzmärkte in den nächsten Jahren?
Ohne Zweifel. EU-Kommissarin Maired McGuinness sagte einmal: „Ohne Geld können wir träumen, mit Geld können wir handeln.“ Wenn wir die globalen Ziele erreichen wollen, wie sie in den UN-Nachhaltigkeitszielen und dem Pariser Abkommen definiert sind, muss die entsprechende Finanzierung im Mittelpunkt unserer Bemühungen stehen. Es ist äußerst wichtig, dass Nachhaltigkeit zum Rückgrat der Finanzmärkte wird und Nachhaltigkeitsaspekte in alle Finanzentscheidungen integriert werden. Dies erfordert eine Änderung des Verhaltens, der Denkweise und der Arbeitsweise, aber die Finanzmärkte müssen die Realwirtschaft unterstützen und Teil der Lösung der globalen Herausforderungen sein. Nur so können wir Veränderungen herbeiführen und eine kohlenstoffarme und integrativere Welt schaffen. Die Akzeptanz von Nachhaltigkeit ist notwendig, um finanzielle Stabilität zu gewährleisten. Wie Marc Carney einmal sagte, müssen Finanzinstitute jetzt entscheiden, ob sie Teil der Lösung oder Teil des Problems sein wollen. Dies gilt für alle Firmen und auf individueller Ebene.
Was sind hier die größten Herausforderungen?
Es gibt drei Herausforderungen – die drei D: Data, Definitions, Disclosure. Es sind viele Daten verfügbar, aber sie sind auf mehrere Quellen verteilt und liegen oft in inkompatiblen Formaten vor, was Vergleiche erschwert. Für Anleger ist es somit schwierig, relevante und aussagekräftige Daten für ihre Entscheidungen zu identifizieren. Es fehlt zudem an harmonisierten Standards und universellen Rahmenwerken und Taxonomien für Emissionen, Offenlegung und Berichterstattung. Wir brauchen eine gemeinsame Sprache für das, was eine grüne bzw. soziale Investition ausmacht.
Wie wichtig ist das Thema Ausbildung für Vermögensverwalter, Banken, Versicherer et cetera?
Wissen und Bildung zu nachhaltiger Finanzierung sind für Marktakteure unerlässlich, um zu verstehen, wie sie ihren Finanzierungsbedarf mit ihren Nachhaltigkeitszielen kombinieren können. Aber es geht nicht nur darum, zu verstehen, wie Finanzmärkte funktionieren. Unternehmen brauchen jetzt Nachhaltigkeitsexperten, die CO2-Emissionen berechnen, den Verlust oder Gewinn an biologischer Vielfalt abschätzen, soziale Auswirkungen messen und den Zusammenhang zwischen Finanzen, Wirtschaft und Umwelt erklären können. Diese Kompetenzen gehörten früher nicht zur Finanzwelt, heute sind sie unverzichtbar.
Und wo muss angesetzt werden?
Das muss ganz oben anfangen. Auch Unternehmensvorstände müssen zum Thema Nachhaltigkeit geschult werden. Durch eine angemessene Ausbildung zu verschiedenen Aspekten nachhaltiger Finanzen werden Vermögensverwalter, Banken et cetera in der Lage sein, besser zu verstehen, wie Klimarisiken sie betreffen und wie sie Möglichkeiten zur Minderung dieser Risiken und zur Anpassung ihrer Geschäftsmodelle an eine dekarbonisierte Welt erkennen. Stranded Assets sind ein Risiko, das die Stabilität der Finanzmärkte beeinträchtigen kann. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass sich Unternehmen aller Branchen das Wissen aneignen, das sie benötigen, um mit der Definition ihrer Wege zu Net Zero zu beginnen.
Was macht die LGX im Bildungskontext?
Für die LGX Academy war es ein intensives und erfolgreiches Jahr 2021. Wir haben 150 Schulungszertifikate ausgestellt und konnten auch die globale Präsenz mit Teilnehmern aus Australien, der Schweiz, Deutschland, Frankreich, Vietnam, Cabo Verde, Ruanda, Polen und Malta erweitern. Wir organisierten Kurse zu den Grundlagen nachhaltiger Finanzen, Produkten und Standards, die derzeit auf dem Markt sind, und Fallstudien aus erster Hand darüber, wie Akteure nachhaltige Finanzen zur Finanzierung ihrer grünen bzw. sozialen Projekte nutzen. Die Teilnehmer kamen aus Anwaltskanzleien, Dienstleistungsunternehmen, Börsen, Banken und externen Gutachtern. Wir haben auch Kurse mit Börsen, den Finanzministerien und Banken in Vietnam und Cabo Verde organisiert. Schließlich haben wir zum Masterstudiengang Wealth Management an der Universität Luxemburg beigetragen.
Ist dies auch ein wichtiger Schritt, um einen Greenwashing-Skandal zu vermeiden?
Ja, Wissen und Bildung über nachhaltige Finanzen und Nachhaltigkeitswissen im weiteren Sinn sind der Schlüssel zur Reduzierung oder Vermeidung von Greenwashing. Transparenz ist ebenso wichtig wie Aufklärung – deshalb sind Offenlegung und Berichterstattung wichtige Säulen von Sustainable Finance. Anleger wollen zunehmend wissen, wohin ihr Geld fließt, und analysieren nicht mehr nur die reinen Finanzinformationen, bevor sie entscheiden, ob sie in ein Unternehmen investieren oder nicht. Die Nachhaltigkeitsstrategie und ESG-Profile von Unternehmen werden zunehmend von Investoren hinterfragt.
Sehen Sie große Greenwashing-Risiken?
Ich sehe kein großes Greenwashing-Risiko, wenn es um nachhaltige Anleihen geht, da der Prozess klar definiert ist und vor und nach der Emission eine Menge an Dokumenten erforderlich sind, einschließlich Verwendungs- und Impact-Berichte. Dank dieser Berichterstattung und international anerkannter Standards, die den Emissionsprozess definieren, können Anleger und die breite Öffentlichkeit überprüfen, ob die Emittenten ihren Verpflichtungen nachkommen.
Das Interview führte