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Wirecard legt Reformbedarf der Dax-Index-Regeln offen

Von Christopher Kalbhenn, Frankfurt Börsen-Zeitung, 8.7.2020 Die Erschütterungen des Wirecard-Skandals werden auch für die Dax-Index-Familie der Deutschen Börse Folgen haben. Sie will ihre Indexregeln überprüfen und hat ein...

Wirecard legt Reformbedarf der Dax-Index-Regeln offen

Von Christopher Kalbhenn, FrankfurtDie Erschütterungen des Wirecard-Skandals werden auch für die Dax-Index-Familie der Deutschen Börse Folgen haben. Sie will ihre Indexregeln überprüfen und hat ein Marktkonsultationsverfahren angekündigt. Hintergrund ist, dass nach dem Regelwerk ein Unternehmen, das ein Insolvenzverfahren beantragt hat, zwar aus den Indizes entfernt wird, dies jedoch erst im Zuge der darauf folgenden turnusmäßigen Überprüfung der Indexzusammensetzungen. Das bedeutet, dass Wirecard erst im September aus dem Dax sowie auch aus dem TecDax ausscheidet. Unhaltbarer ZustandDas ist ein unhaltbarer Zustand, und zwar nicht nur angesichts der zusammengebrochenen Streubesitzkapitalisierung, durch den die Voraussetzungen für die Dax-Mitgliedschaft mittlerweile meilenweit verfehlt werden. Der Dax ist ein Aushängeschild der deutschen Wirtschaft und des Finanzmarkts, und angesichts der Qualität und des Ausmaßes des Bilanzskandals ist Wirecard der Indexzugehörigkeit nicht mehr würdig. Es ist eine Frage des Vertrauens in den Finanzmarkt, dass einem solchen Unternehmen umgehend das Prädikatssiegel der Mitgliedschaft in einem Auswahlindex entzogen wird. Zumal auch das Verhalten des Wirecard-Kurses alles andere als ein Argument für eine fortgesetzte Indexmitgliedschaft ist. Durch den Kurseinbruch belegt die Aktie in der Rangliste der zehn stärksten Tagesverluste von Dax-Komponenten jetzt fünf Plätze, darunter die Ränge 2 bis 4. Hinzu kamen zuletzt – auf dem zertrümmerten Kursniveau – Verlaufstagesgewinne jenseits der 200-Prozent-Marke. Wirecard ist zum Zockerpapier verkommen.Bei den ebenfalls zur Deutschen Börse gehörenden Stoxx-Indizes konnte und wurde umgehend gehandelt. Denn die Regeln dieser Indexfamilie sehen vor, dass die Aktie eines Unternehmens, bei dem ein Insolvenzverfahren startet, sofort entfernt wird. Seit einer Woche ist Wirecard nicht mehr im Stoxx Europe 600 enthalten. Auffällig ist, dass die Dax-Index-Regeln betreffend Insolvenz eher knapp gehalten sind und weitere Vorkehrungen für Indexausschlüsse, etwa Corporate-Governance-Kriterien, fehlen. Jedenfalls sollte aber ein Resultat der Regelüberprüfung die sofortige Entfernung bei einem Insolvenzverfahren sein, so wie das für die Stoxx-Indizes der Fall ist.Wie verfahren andere Indexanbieter? Die Regelwerke von FTSE Russell und MSCI haben detailliertere und differenziertere, aber auch zum Teil etwas schwammig formulierte Regelungen zu insolventen Indexkomponenten. So sieht FTSE Russell den Ausschluss vor, wenn ein Unternehmen bankrott geht, Gläubigerschutz beantragt, insolvent ist oder liquidiert wird oder wenn es Belege für eine Veränderung von Umständen gibt, durch die die Aktie nicht für die Indexzugehörigkeit in Frage kommt. Als Beispiel erwähnt das Regelbuch für US-Komponenten unterschiedliche amerikanische Verfahren. Wenn ein Antrag nach Chapter 7 des US-Insolvenzrechts eingereicht wird, bei dem es nur noch um die Liquidation des noch vorhandenen Vermögens geht, oder ein Liquidationsplan beantragt wird, erfolgt unmittelbar die Indexentfernung. Erfordert ein Liquidationsplan die Zustimmung der Aktionäre, erfolgt die Entfernung nach deren Zustimmung. Wird ein Chapter-11-Verfahren beantragt, das die Sanierung bzw. Reorganisation der Finanzen vorsieht, bleibt die Aktie des Unternehmens im Index, es sei denn, sie wird an ihrer Hauptbörse delistet. MSCI sieht den Indexrauswurf “as soon as possible” für Aktien von Unternehmen vor, die Bankrott oder Gläubigerschutz beantragen oder die ausgesetzt werden bzw. bei denen eine Rückkehr zu normaler Geschäftstätigkeit bzw. ein Börsenhandel in naher Zukunft unwahrscheinlich ist.Die Reform der Dax-Indexregeln sollte sich aber nicht auf die Insolvenz beschränken, sondern, wie Christian Strenger, Akademischer Direktor des Governance Centers der HHL Leipzig, fordert, auch an der Corporate Governance ansetzen. So wäre es in der Tat sinnvoll, die Zeit für die Vorlage von Jahreszahlen zu verkürzen und im Falle der Nichteinhaltung nach einer angemessenen Frist die Aktie eines säumigen Unternehmens aus den Auswahlindizes und gegebenenfalls auch aus dem hohe Transparenzanforderungen stellenden Prime-Standard-Segment zu entfernen, zumindest für die Zeit, bis Abhilfe geschaffen worden ist. Denkbar wäre auch, Unternehmen, die sich das Qualitätssiegel der Zugehörigkeit zu einem Auswahlindex nachweislich durch Bilanzfälschung oder andere schwerwiegende Unregelmäßigkeit “erschlichen” haben, zu entfernen und ihnen anschließend, sofern sie überleben und aufräumen, für einen mehrjährigen Zeitraum eine Rückkehr in die Auswahlindizes zu verweigern. Steinhoff wieder im SDax Wirecard ist nicht der einzige Fall, der den dringenden Regelreformbedarf anzeigt. Es gibt noch den nicht minder schweren Fall Steinhoff. Dieser Möbelhandelskonzern ist im Dezember 2015 in Frankfurt an die Börse gegangen, obwohl kurz zuvor die Staatsanwaltschaft Oldenburg bereits Ermittlungen wegen vermuteter Unregelmäßigkeiten aufgenommen hatte. Als Deloitte die Testierung des Abschlusses verweigerte und sich herausstellte, dass die Führung des Unternehmens die Bilanz durch Luftbuchungen aufgebläht hatte, stürzte die Aktie, die 2017 zu den größten MDax-Titeln zählte und sogar als Dax-Kandidat gehandelt wurde, ins Bodenlose. Steinhoff ist nicht ganz mit Wirecard vergleichbar. Schließlich ist das Unternehmen nicht in die Insolvenz gegangen und auch keine Dax-Komponente. Wären die rechtzeitige Vorlage der testierten Jahresabschlüsse bzw. Nachbesserung innerhalb eine angemessenen Frist Voraussetzung für den Indexverbleib und nachweisliche schwerwiegende Unregelmäßigkeiten ein Grund für die Entfernung aus den Indizes, wäre dem Finanzmarkt das lange Indextrauerspiel von Steinhoff erspart geblieben. 2016 in den MDax aufgenommen, stieg die Aktie zwei Jahre später in den SDax ab. Im Dezember 2019 wurde sie auch aus diesem Index entfernt, um absurderweise nach einer erneuten Überprüfung im März 2020 wieder in den SDax aufgenommen zu werden.Auch wenn einem Unternehmen, sofern es notwendige Verbesserungen der Corporate Governance durchführt beziehungsweise mit neuer Führung quasi wieder auf den Pfad der Tugend zurückfindet, grundsätzlich die Chance zur Rückkehr zu gewähren ist, hätte Steinhoff längst aus den Auswahlindizes entfernt und eine mehrjährige Indexsperre verhängt werden sollen. Auch wäre aktuell zu prüfen, ob eine Penny-Stock-Ausschlussregelung sinnvoll wäre, denn der Kurs von Steinhoff liegt bei rund 5 Cent. Die Aktie eignet sich ebenso wenig wie Wirecard für langfristige Investments und hat Stand jetzt ebenfalls nichts in den Auswahlindizes zu suchen.