US-Kongresswahlen

Der US-Rechtsstaat ist so verwundbar wie nie zuvor

Am kommenden Dienstag wird Amerika wählen. Entschieden wird unter anderem über die Zusammensetzung des neuen Kongresses. Einige der aussichtsreichen Kandidaten weigern sich bis heute, den Ausgang der Präsidentschaftswahl 2020 anzuerkennen.

Der US-Rechtsstaat ist so verwundbar wie nie zuvor

Am 8. November wird die US-Öffentlichkeit bei den Kongress- und Kommunalwahlen ein indirektes Urteil über die ersten beiden Amtsjahre von Präsident Joe Biden fällen. Zwar ist Bidens Job nicht in Gefahr, zumindest bis 2024. Doch viele Senatoren, Abgeordnete und Gouverneure – die Regierungschefs der einzelnen Staaten – müssen um ihre politische Zukunft bangen. Unterdessen lautet die fundamentalere Frage, wie es um die Standfestigkeit des Rechtsstaats und der Demokratie bestellt ist, die sich auf brüchigem Boden bewegen.

Vorrangig geht es am kommenden Dienstag um die Frage, ob es zu einer Kräfteverschiebung im Kongress kommen wird, wo derzeit die Demokraten in beiden Kammern die Mehrheit stellen, und inwieweit Präsident Joe Biden in der zweiten Hälfte seiner ersten Amtsperiode regierungsfähig sein wird. 35 Senatoren, darunter 21 Republikaner und 14 Demokraten, stellen sich ebenso wie sämtliche 435 Mitglieder des Repräsentantenhauses der Wiederwahl. Auch werden wahlberechtigte Bürger in 39 der 50 US-Staaten ihre Stimmen für Gouverneure, Innenminister und Staatsanwälte abgeben. Diese Landes- und Kommunalpolitiker werden aufgrund ihrer einzigartigen Befugnisse, die von Staat zu Staat verschieden sind, im Stande sein, künftig bei Präsidentschaftswahlen das Zünglein an der Waage zu spielen. Beispielsweise, indem sie ein legitimes Direktstimmen-Ergebnis ignorieren und stattdessen ihre eigenen Elektoren ernennen, die letztendlich darüber entscheiden würden, wie der nächste Präsident heißen wird.

Sollten die Republikaner sowohl den Senat als auch das Repräsentantenhaus von den Demokraten zurückerobern – Umfragen zufolge ist dies die wahrscheinlichste Variante – dann würden die unmittelbaren politischen Folgen für die Biden-Regierung immens sein. Die derzeitige Oppositionspartei könnte wirtschaftspolitische Maßnahmen, etwa Ausgabenprogramme oder Steuerreformen, blockieren, die der Präsident initiieren würde, sollte die US-Wirtschaft in eine Rezession abgleiten.

Republikaner gegen Biden

Ungeachtet des Wirtschaftswachstums im dritten Quartal halten die meisten Ökonomen eine Rezession nämlich nach wie vor für wahrscheinlich. Darüber hinaus würden Republikaner als Mehrheitspartei versuchen, Bidens „Anti-Inflation Act“ auszuhöhlen. Das im August verabschiedete Gesetz soll Pharmaunternehmen zur Senkung ihrer Preise zwingen, das Haushaltsdefizit verringern und zielt zudem auf die Förderung grüner Energien ab.

Zu erwarten wäre ferner, dass Republikaner Handelsabkommen zu Fall bringen und versuchen würden, bestehende wieder aufzuschnüren, sofern darin enthaltene Vorschriften zum Schutz von Arbeitnehmern und der Umwelt amerikanischen Unternehmen zusätzliche Kosten aufbürden. Leiden würden zudem Maßnahmen zur Förderung erneuerbarer Energien, die Biden ergriffen hat oder in den kommenden Jahren einzuleiten gedenkt. Kaum ein Ressort bliebe von einem Machtwechsel im Kongress verschont, und der Präsident, der in der Wählergunst weit abgerutscht war und nun langsam beginnt, Boden wettzumachen, wäre in den kommenden Jahren zu einer politischen „lame duck“ („lahme Ente“) degradiert.

Auch gesellen sich zu den direkten Folgen für die politische Handlungsfähigkeit der amtierenden Regierung wachsende Sorgen um die Bedeutung der Wahlen für den Rechtsstaat und die Demokratie. In zahlreichen der sogenannten „swing states“ mit einem hohen Anteil an Wechselwählern haben nämlich Kandidaten ihren Hut in den Ring geworfen, die sich bis heute weigern, Biden als legitimen Präsidenten anzuerkennen.

Im Falle eines Sieges wären viele dieser Kandidaten, die meisten von ihnen Anhänger des ehemaligen Präsidenten Donald Trump, durchaus im Stande, 2024 den Wahlausgang in ihrem Sinne zu biegen. Kurzum: Jene kollektive Erleichterung, die nach der Verhaftung von Aufständischen, die am 6. Januar 2021 das Kapitol gestürmt hatten, einsetzte und sich zu festigen schien, als Trump zwei Wochen später das Weiße Haus verließ, ist mittlerweile der Einsicht gewichen, dass der US-Rechtsstaat heute so verwundbar ist wie nie zuvor.

Das zeigt sich an den Rennen in einzelnen Staaten. So hat in dem wichtigen „swing state“ Arizona der republikanische Finanzier Blake Masters, ein Protegé des Tech-Milliardärs Peter Thiel und selbst ein sogenannter „Wahlleugner“, der Bidens Wahlsieg in Frage stellt, gute Chancen, den Demokraten Mark Kelly aus dem Amt zu jagen. Dasselbe gilt für den früheren Football-Star Herschel Walker, der in Georgia dem demokratischen Senator Raphael Warnock den Rang ablaufen will und gewinnen könnte.

Deutlich weiter geht die frühere Fernsehmoderatorin Kari Lake, die hofft, in Arizona als Gouverneurin die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Lake bestreitet nicht nur den Wahlausgang vom vorletzten November. Sie plädiert auch für die Inhaftierung ihrer politischen Gegnerin Katie Hobbs und würde Journalisten einsperren lassen, die kritisch über sie berichten. Ähnliche Forderungen hatte seinerzeit auch Trump gestellt. Der Slogan „Lock her up!“, also „Sperrt sie ein!“, spielte 2016 auf die demokratische Spitzenkandidatin Hillary Clinton an, und der Wunsch, Reporter verhaften zu lassen, war dem Ex-Präsidenten schon immer ein Anliegen.

Die Republikanerin Lake gilt jedenfalls als klare Favoritin und könnte sich als Gouverneurin weigern, legitim abgegebene Stimmen zählen zu lassen. Sie könnte dann ihren Innenminister – der zugleich die oberste Wahlaufsichtsinstanz wäre – anweisen, nach einer Präsidentschaftswahl von ihr bestimmte republikanische Elektoren nach Washington zur offiziellen Auszählung zu schicken. Auch in anderen „swing states“ wie Michigan, Wisconsin und Pennsylvania könnten bald Wahlleugner an den Schalthebeln der Macht sitzen, die bereit wären, das Direktstimmenergebnis zu ignorieren, und eigenhändig den Wahlausgang bestimmen könnten.

Derartige Manipulationen könnten einen legitimen Wahlausgang ad absurdum führen, denn Lake, Masters und Walker sind keine Einzelfälle, im Gegenteil. Über 60% der republikanischen Kandidaten sind nämlich Wahlleugner. Auf Landes- und Kommunalebene ist deren Anteil noch höher, und in jenen „swing states“ wie Pennsylvania, Michigan, Georgia, Arizona, Wisconsin und Nevada – in diesen hatte Trump seine Niederlage angefochten – sind sie besonders zahlreich vertreten.

Unterdessen hängt die Möglichkeit einer weiteren Trump-Kandidatur wie ein Damoklesschwert über den bevorstehenden Wahlen. Zwar lässt sich der Unternehmer nicht in die Karten schauen, hat aber durchblicken lassen, dass er sich bei entsprechenden Siegeschancen die Gelegenheit nicht nehmen lassen würde, wieder anzutreten. Über seine Erfolgsaussichten könnten die bevorstehenden Wahlen einigen Aufschluss geben. Gegen eine Kandidatur des Ex-Präsidenten spricht höchstens, dass zwei Drittel der republikanischen Wähler, die einen Universitätsabschluss haben und jünger als 35 sind, gesagt haben, dass sie nicht einmal bei republikanischen Vorwahlen Trump ihr Votum schenken würden.

Gleichwohl fürchten die Demokraten angesichts der hohen Inflation und schwachen Konjunktur, dass Trump aus einer Neuauflage des Duells mit Biden als Sieger hervorgehen könnte. Erst recht, wenn auf Ebene der anstehenden Wahlen in wichtigen Staaten die sogenannten „election deniers“ Ämter bekleiden, in denen sie zu Manipulationen fähig werden. Mehrere demokratische „politische Aktionskomitees“ (PACs) haben daher zweistellige Millionenbeträge ausgerechnet in die Kampagnen rechtsgerichteter Republikaner gepumpt.

„Swing states“ entscheidend

Die riskante Überlegung dahinter: Einige der Kandidaten, die von der Oppositionspartei ins Rennen geschickt werden, sind so extrem, dass moderate Wähler in „swing states“, auf die beide Parteien dringend angewiesen sind, diese für nicht für tragfähig halten und stattdessen ihre Stimme deren demokratischen Gegnern schenken werden. Die Strategie könnte aber deswegen einen Bumerang-Effekt entfalten, weil zahlreiche der „Trumpisten“ in den Wahlumfragen ihren Kontrahenten dicht auf den Fersen sind und teilweise sogar die Nase vorn haben.

Was den Kongress angeht, wäre eine substanzielle Kräfteverschiebung keineswegs überraschend. Dass bei den sogenannten „mid-terms“, den Abstimmungen alle zwei Jahre zwischen Präsidentschaftswahlen, die regierende Partei Federn lässt und mindestens eine Kongresskammer abtreten muss, zählt nämlich historisch gesehen zur Tagesordnung. Dass dies auch am kommenden Dienstag geschehen wird, ist angesichts der hohen Inflation, der schwächelnden Wirtschaft – Republikaner sprechen bereits von der „Biden-Rezession“ – und daraus resultierend der geringen Popularität des Präsidenten umso wahrscheinlicher.

Dennoch ist die Regierungspartei keineswegs chancenlos und hat während der letzten Wochen Umfragen zufolge einigen verlorenen Boden wieder gutgemacht. Das liegt zum einen daran, dass die Entscheidung des republikanisch beherrschten Obersten Gerichtshofs, das Recht der Frauen aufzuheben, frei über einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden zu dürfen, auch bei gemäßigten Republikanern unbeliebt ist.

Fraglicher Wahlausgang

Davon könnten demokratische Kandidaten ebenso profitieren wie von der Tatsache, dass einige der Trumpisten moderaten Wählern in der Tat zu extrem sind. Im Falle einer erfolgreichen Aufholjagd der Demokraten bliebe aber eine zentrale Frage unbeantwortet: Würden Republikaner, die verlieren, ihre Niederlage anerkennen und die Waffen strecken oder im Stile Trumps legitime Ergebnisse anfechten und hoffen, dass höhere Gerichte ihren Klagen stattgeben?

Kari Lake und viele andere weigern sich hartnäckig, darauf zu antworten, ob sie einen demokratischen Wahlsieg hinnehmen würden. Zahlreiche Beispiele von Wählereinschüchterung, der brutale Überfall auf den Ehemann von Nancy Pelosi, der demokratischen Chefin im Repräsentantenhaus, und Warnungen seitens des FBI und des Heimatschutzministeriums vor Unruhen könnten nicht nur die Wahlen selbst überschatten, sondern deren Ausgang für Tage, wenn nicht sogar Wochen oder Monate in Frage stellen. Sicher erscheint lediglich, dass der amerikanische Rechtsstaat und die Demokratie kommenden Dienstag vor eine ihrer härtesten Bewährungsproben gestellt werden dürften.

Von Peter De Thier, Washington

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