Friedrich Heinemann

„Lange Fristen untergraben jede fiskalische Verantwortung“

Die EU-Schuldenregeln mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt im Zentrum sollen reformiert werden. Die EU-Kommission hat dazu jetzt erste Vorschläge gemacht. ZEW-Finanzexperte Friedrich Heinemann sieht sie recht kritisch.

„Lange Fristen untergraben jede fiskalische Verantwortung“

Mark Schrörs.

Herr Professor Heinemann, die EU-Kommission hat erste Vorschläge zur Reform der EU-Fiskalregeln gemacht. Im Kern geht es um mehr Flexibilität und stärker länderspezifische Vorgaben beim Abbau zu hoher Schulden. Wie beurteilen Sie das?

Die Vorschläge haben mich enttäuscht. Die Idee, stärker auf eine Obergrenze für die Ausgaben zu setzen, ist zwar gut. Die Kommission baut das aber in einen intransparenten Verhandlungsprozess ein. Das Grundproblem des Stabilitätspakts war bisher, dass die Kommission den Pakt zunehmend mit politischem Kalkül angewendet hat. Hohe Umfragewerte für Populisten haben da schon ausgereicht, um die Kommission zur Milde zu bewegen. Seit langem liegt der Vorschlag auf dem Tisch, dem unabhängigen Europäischen Fiskalrat mehr Verantwortung in der Überwachung zu geben. Davon will die Kommission leider nichts wissen.

Vorbild für den Vorschlag scheinen die nationalen Reformprogramme zu sein, die die Länder im Gegenzug für Gelder aus dem EU-Corona-Wiederaufbaufonds aufstellen mussten. Ist das übertragbar oder fehlt bei den Fiskalregeln nicht die Aussicht auf Geld als Anreiz, um die Vorgaben einzuhalten?

Der Stabilitätspakt hat nie über monetäre Anreize gewirkt, weil jeder weiß, dass Kommission und Rat keine Geldstrafen wollen. Der eigentliche Anreiz war die Öffentlichkeitswirksamkeit. Eine solche Bloßstellung wird in Zukunft bei den langen Fristen, die im neuen Verfahren eingeräumt sind, noch schwieriger.

Die EU-Kommission schlägt zwar nicht vor, bestimmte Investitionen aus der Defizit- und Schuldenberechnung herauszunehmen. Aber sie möchte Ländern mehr Zeit zum Schuldenabbau geben, wenn sie sich zu wachstumsfreundlichen Reformen und Investitionen verpflichten. Wie schätzen Sie das ein?

Die im Kommissionsvorschlag angelegten Rechtfertigungsgründe für eine Verschiebung des Schuldenabbaus sind grenzenlos, sie reichen von Klimapolitik über Wachstumspolitik bis hin zu sozialen Zielen. Die Kommission ist sogar bereit, kritisch verschuldeten Ländern die Möglichkeit zu geben, einen Schuldenrückbau um bis zu sieben Jahre zu verschieben, wenn das Land nur genug Reformen verspricht. Damit würde der Schuldenabbau bis weit in die nächste Legislaturperiode vertagt. Diese langen Fristen untergraben jede fiskalische Verantwortung einer amtierenden Regierung.

Grundsätzlich ist eine intensive Debatte über die künftige Architektur der Eurozone im Gange, nicht zuletzt als Lehre aus der Coronakrise, in der es auch erstmals in großem Stil nicht rückzahlbare Zuschüsse für bedürftige Länder gab und in der die EU-Kommission erstmals in großem Stil Schulden aufnehmen durfte. Verändert die Währungsunion gerade fundamental ihren Charakter?

Das denke ich schon. Wir bewegen uns immer stärker in Richtung von Gemeinschaftsgarantien und Transfers. Das ist für eine EU, die sich auch als solidarische Gemeinschaft versteht, nicht unbedingt eine schlechte Entwicklung. Damit Solidarität funktioniert, müssen Mitgliedstaaten aber Autonomie aufgeben und sich einer wirksamen Aufsicht unterwerfen. Und gerade deshalb ist die jetzt von der Kommission vorgeschlagene Reform des Stabilitätspakts mit der Absage an eine wirklich unabhängige Überwachung so enttäuschend.

Braucht die Währungsunion auf Dauer letztlich eine gemeinsame Fiskalpolitik und eine stärkere Risikoteilung auch über fiskalische Vorkehrungen – wie es etwa die Europäische Zentralbank (EZB) dieser Tage wieder gefordert hat?

Die Forderungen der EZB sind aus ihrer Sicht nachvollziehbar. Die EZB ist deshalb in die Rolle des Garanten für hoch verschuldete Euro-Staaten gerutscht, weil die EU keine fiskalpolitischen Lösungen dafür bietet. Die Corona-Instrumente wie Next Generation EU können hier nicht überzeugen, weil sie vorrangig wieder Umverteilung von Reich zu Arm betreiben und ein Land nicht vor der Überschuldung bewahren können. Dieses Problem ließe sich letztlich nur durch massive Transfers oder eine Staatsinsolvenz lösen. Und beide Ansätze sind politisch nicht konsensfähig. Daher bleibt die EZB in der Pflicht – zum Schaden ihrer geldpolitischen Glaubwürdigkeit.

In der aktuellen Energiekrise gibt es nach dem Vorbild des Corona-Wiederaufbaufonds Forderungen nach einem Energiefonds – auch als Zeichen der Solidarität. Droht Europa und konkret der Eurozone in der aktuellen Krise die Spaltung und wäre ein neuer Geldtopf dagegen angemessen und richtig?

Viele Brüsseler Akteure reagieren hier nach dem Motto „Verschwende keine Krise, ohne einen neuen EU-Finanzierungstopf zu fordern.“ Besonders schlüssig ist diese Argumentation nicht. Derzeit besonders betroffen sind entweder wohlhabende Länder wie Deutschland oder Österreich oder die Osteuropäer, die aber ohnehin schon ganz massiv von EU-Transfers begünstigt sind. Nein, wir brauchen jetzt keinen Energie-Wiederaufbaufonds in Europa. Es wird ohnehin schon zu viel nationales Geld über ungezielte Hilfspakete zum Fenster hinausgeworfen. Da sollte man kein europäisches Geld hinterherwerfen.

In Großbritannien haben unlängst Pläne für eine expansive Fiskalpolitik zu Sorgen über die Tragfähigkeit hoher Staatsschulden und zu schweren Verwerfungen an den Finanzmärkten geführt. Droht der Eurozone Ähnliches, wenn die Staaten in der Energiekrise nun wieder in großem Stil Fiskalprogramme auflegen – die zudem die Inflation weiter anheizen könnten?

Es wäre schön, wenn es auch auf dem Kontinent so einen heilsamen Marktdruck noch geben würde. Denn die Finanzmärkte haben im Vereinigten Königreich die ökonomische Inkompetenz aus der Regierung verjagt – genauso sollte es sein! Ich fürchte jedoch, dass die EZB mit ihren Garantien für die Eindämmung von Zins-Spreads durch das neue Instrument TPI diese Marktdisziplin weiter beschädigt hat. Übrigens würde auch der Kommissionsvorschlag zur Reform des Stabilitätspakts den Marktmechanismus weiter schwächen. Nach den Vorstellungen der Kommission sollen Zinszahlungen auf die neue Ausgabengrenze nicht angerechnet werden. Das ist genau falsch. Steigende Zinsen müssen zu Einsparungen an anderer Stelle führen. Man kann sie nicht wegdefinieren.

Die EZB steckt nicht nur in einem Dilemma zwischen Rekordinflation und Rezessionsangst, sondern auch zwischen Kampf um Preisstabilität und Sorgen um eine Euro-Schuldenkrise 2.0 – wie auch das neue Kriseninstrument TPI belegt. Wie sehen Sie die aktuelle Politik der EZB – und wie ihre künftige Rolle in der Währungsunion?

Die EZB steht vor der ganz großen Bewährungsprobe. In den nächsten beiden Jahren muss sie zeigen, ob sie wirklich eine europäische Deutsche Bundesbank ist oder ob sie eher an die Stabilitätstradition südeuropäischer Zentralbanken von vor 1990 anknüpft. Der Ausgang dieses Experiments ist völlig offen.

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