Siegreich, doch angeschlagen
Quo vadis, Macron? Frankreichs Staatsoberhaupt hat sein Versprechen wahr gemacht und eine Rentenreform auf den Weg gebracht. Doch es ist ein bitterer Sieg, den Emmanuel Macron errungen hat. Und der Preis, den er dafür während der verbleibenden Amtszeit wird bezahlen müssen, könnte höher ausfallen, als er erwartet hat. Denn der parteiübergreifende Misstrauensantrag gegen die Regierung seiner Premierministerin Élisabeth Borne ist mit neun fehlenden Stimmen weit knapper ausgegangen als erwartet. Das ist keine gute Ausgangsbasis für die nächsten vier Jahre vor den nächsten Präsidentschaftswahlen. Vor allem aber bestärkt der Ausgang Gegner der Rentenreform, Gewerkschaften und Vertreter der Opposition in ihrer Überzeugung, ihr Präsident trete die Demokratie mit Füßen.
Dabei haben die zwei Misstrauensanträge gezeigt, dass es in der Nationalversammlung keine Mehrheit gegen die Rentenreform gibt, auch wenn es vielleicht keine Mehrheit für die darin vorgesehene Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre gegeben hätte. Statt diese Realität anzuerkennen, fühlen sich Gegner Macrons in ihrem Glauben bestätigt, er regiere wie ein Diktator. Dabei ist nicht er allein an der politischen Krise schuld, die die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone derzeit durchlebt.
Die von Jean-Luc Mélenchon angeführten Linkspopulisten von La France Insoumise (LFI), aber auch der rechtsextreme Rassemblement National (RN), Sozialisten und die konservativen Republikaner tragen dafür mindestens genauso viel Verantwortung. Denn ein Großteil von ihnen hat die Bevölkerung in ihrem Glauben bestärkt, ein Status quo des Rentensystems oder gar die Rückkehr zu einem Renteneintrittsalter von 60 Jahren sei möglich. Selbst ein Teil der Republikaner, die eigentlich von ihrer wirtschaftspolitischen Überzeugung her die Rentenreform hätten mittragen müssen, haben die Pläne Macrons lieber torpediert, um sich als Opposition von der Regierung abzugrenzen. Statt gemeinsam eine für alle akzeptable Kompromisslösung zu suchen, hat die Opposition – allen voran LFI – rund 20000 Abänderungsanträge gestellt und damit eine vernünftige Debatte im Keim erstickt.
Der ohnehin seit dem Verlust der absoluten Mehrheit der Regierungspartei Renaissance geschwächte Macron ist nun noch angeschlagener. Er steht vor der Wahl, entweder in der Hoffnung, die Proteste würden irgendwann auslaufen, so weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Oder er geht einen Schritt auf die gemäßigte Opposition zu, um mit ihrer Hilfe während seiner restlichen Amtszeit weitere Reformen auf den Weg zu bringen. Allerdings sind seine Mittel dabei äußerst begrenzt. Die von ihm für diesen Mittwoch geplante Fernsehansprache dürfte nicht helfen, die erhitzten Gemüter zu beruhigen. Seine Premierministerin auszuwechseln käme dem Eingeständnis einer Niederlage gleich, genau wie die von einigen ins Spiel gebrachte Auflösung der Assemblée Nationale. Mit Neuwahlen ginge Frankreichs Präsident zudem das Risiko ein, dass die Linkspopulisten von LFI und die sich nach außen bürgerlich gebenden Rechtsextremen vom RN weitere Sitze gewinnen – und die Regierungsparte noch mehr Stimmen verliert.
Gewerkschaften und Opposition spekulieren darauf, Macron mit anhaltenden und verstärkten Protesten dazu zwingen zu können, die Rentenreform doch noch fallen zu lassen. Immer wieder verweisen sie darauf, dass es ihnen so 2006 gelungen ist, den damaligen Premier Dominique de Villepin dazu zu bringen, den bereits verabschiedeten Ersteinstellungsvertrag Contrat Première Embauche wieder zurückzunehmen.
Dabei hat Frankreich angesichts des 2030 drohenden Defizits der Rentenkassen von 13,5 Mrd. Euro eigentlich keine andere Wahl, als sein Rentensystem zu reformieren. Denn das Land gibt 13,6% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Renten aus, deutlich mehr als andere Länder der Europäischen Union (EU) oder der Industriestaaten in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Gleichzeitig sind sowohl Lebenserwartung als auch Renten höher als in anderen Ländern. Dazu kommt ein anderes Problem. Zwar liegt das Mindestrenteneintrittsalter derzeit bei 62 Jahren, doch de facto gehen französische Männer im Schnitt mit 60,4 Jahren in Rente, in der gesamten EU dagegen mit 62,6 Jahren und in den OECD-Staaten mit 63,8 Jahren. Denn die Beschäftigungsrate der 55- bis 64-Jährigen liegt in Frankreich mit 57,2% deutlich unter der Deutschlands (73,7%) und der der Eurozone (63%). Trotz Rentenreform gibt es also noch genug zu tun.