Moskau

Von russischen Opti­misten und Pessi­misten

Die russische Witzkiste hält einiges parat. Auch angesichts der gegenwärtigen Situation greifen viele Russen darauf zurück. Tatsächlich haben die meisten viel zu lange die Augen verschlossen vor dem, was im Kreml vor sich geht. Aber es gibt noch Hoffnung.

Von russischen Opti­misten und Pessi­misten

Um zu bestimmen, wie schlimm die gegenwärtige Situation denn nun wirklich ist, greifen die Russen wieder mal in ihre Witzkiste. Sagt der Pessimist: „Schlechter kann es wohl kaum noch werden.“ „Doch, doch, kann es“, entgegnet der Optimist. In einem anderen Aufeinandertreffen sagt der Pessimist, dass es noch schlimmer kommen werde, worauf der Optimist kontert, dass es schlimmer nicht mehr kommen kann. Und in Erinnerung an das Radio Eriwan, also jenen fiktiven Sender aus der Kommunistenzeit, der simple Zuhörerfragen gewöhnlich paradox oder absurd beantwortet, kursiert wieder die Anfrage, wann es denn besser werde. „Besser war es schon“, so die Antwort.

Dass es ökonomisch, politisch und in vielerlei Hinsicht schlechter geworden ist, habe auch damit zu tun, dass man viele Entwicklungen einfach übersehen habe, wie Intellektuelle momentan im eingeschränkten öffentlichen Diskussionsraum betonen. Von der Falle des Apolitischen ist da etwa die Rede mit Blick gerade auf das erste Jahrzehnt dieses Jahrtausends. Der Rohstoffboom überhäufte Russland mit Geld und die Euphorie über die erste wirkliche Gelegenheit in der russischen Geschichte ging mit der Illusion einher, Vermögen aufzubauen. Viele waren der Meinung, der zunehmend autoritäre Staat sei eine ungefährliche temporäre Begleiterscheinung, die sich schon geben werde.

Durchaus selbstkritisch ging etwa Alexej Wenediktow, der ehemalige Chefredakteur des Senders „Moskaus Echo“, der gleich nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine dichtgemacht worden war, mit sich, seiner Branche und der gesamten Opposition ins Gericht. Man habe sich in den vergangenen zehn Jahren im Kampf gegen den Machtmissbrauch vor allem darauf konzentriert, Korruptionsfälle aufzudecken – und vor diesem Hintergrund übersehen, dass der Kreml seine Energie längst auf Militarisierung und Aufrüstung gelenkt habe.

Auf einen anderen Aspekt, der folgenschwer übersehen worden sei, wies neulich Konstantin Remtschukow, Chefredakteur der Zeitung „Nesawissimaja Gaseta“ hin: Mit Interesse habe man immer die Statistiken zu diversen Entwicklungen der Gesellschaft gelesen und kommentiert – etwa wie viele Russen denn nun einen ausländischen Pass hätten. Anfänglich seien es nur 11% der Bevölkerung gewesen. Schließlich sei man bei 17% gelandet, womit der Plafond offenbar auch erreicht gewesen sei.

Während man diese Statistiken unterhaltsam konsumiert habe, habe man übersehen, dass diese Obergrenze ein konstitutives Element im Selbstverständnis der Russen offenlegte, das auch die politische Nachfrage bestimmt habe: Nur ein kleiner Teil wollte die Welt und westliche Lebensweisen kennenlernen. Der große Rest hatte daran kein Interesse und hat daher auch den Mythos von der eigenen Überlegenheit nie relativiert, was es Wladimir Putin immens erleichterte, die antiwestliche Karte immer wieder und immer aggressiver zu spielen.

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Alexander Ausan, Dekan der Wirtschaftsfakultät auf der Moskauer Staatlichen Universität (MGU), hält dagegen: Das Jahr 2022 habe erst offenbart, wie sehr Russland inzwischen europäisiert ist, sagte er neulich in einem Interview: „Peter der Große“, also der große Reformer-Zar und Europafreund, der vor gut 300 Jahren Sankt Petersburg als „Tor nach Europa“ bauen ließ, „würde applaudieren“. Das Problem, so Ausan, sei ein anderes, nämlich dass sich Europa und Russland nach dem Fall der Sowjetunion zu schnell und zu euphorisch aufeinandergestürzt hatten, als müsse man alles nachholen, was über Jahrzehnte verunmöglicht worden war. Man habe viel zu viel voneinander erwartet; und weil es nicht in diesem Ausmaß eingetreten sei, seien Enttäuschung und inzwischen Gereiztheit eingetreten.

Aber Ausan ist Optimist: die Kulturen arbeiteten zwar langsam, aber so stark, dass man nach der jetzigen Pause dorthin zurückkehren werde, wo man jüngst unterbrochen worden sei. Frei nach den russischen Witzen über Pessimisten und Optimisten: „Es war schon mal besser. Und es wird wieder besser werden.“

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