Karl Haeusgen

„Wir müssen Klumpenrisiken reduzieren“

Der größte industrielle Arbeitgeber in Deutschland muss sich laut VDMA-Präsident Karl Haeusgen verstärkt mit der Frage seiner Abhängigkeit von China beschäftigen. Um Risiken breiter zu streuen, gebe es viele andere Märkte, die auch attraktiv seien.

„Wir müssen Klumpenrisiken reduzieren“

Karolin Rothbart.

Herr Haeusgen, das Jahr 2022 neigt sich dem Ende zu. Was war für den deutschen Maschinenbau die wichtigste Lektion?

Es war ein wirklich ungewöhnliches und stürmisches Jahr mit unglaublichen unterschiedlichen Einflüssen. Wenn man es dennoch auf ein Thema verdichten will, würde ich sagen, dass wir alle auf schmerzhafte Weise gelernt haben, Risiken zu diversifizieren und nicht alle Eier in einen Korb zu legen. Wir müssen genau darauf schauen, in welchen Abhängigkeiten wir stecken, und Klumpenrisiken reduzieren oder auflösen.

Die Energiekrise und die Gefahr einer Gasmangellage haben die Branche 2022 kalt erwischt. Wie haben die Firmen darauf reagiert?

Die Unternehmen im Maschinenbau, von denen ich das beurteilen kann, arbeiten wirklich hart daran, auf der Energiebezugsseite zu diversifizieren. Die Installation eigener Energiequellen läuft massiv an. Wir bei Hawe Hydraulik haben zum Beispiel eigene Tanksysteme installiert, um unabhängiger von Pipelinegas zu werden. Es gibt natürlich eine gewisse Zeitverzögerung, bis die vielen verschiedenen Maßnahmen wirklich wirken. Aber die Aktivitäten sind enorm.

Auch die gestörten Lieferketten haben in diesem Jahr wieder Probleme in der Produktion bereitet. Wie kommen die Unternehmen bei der Diversifizierung ihrer Beschaffung voran?

Ich glaube, die Unternehmen sind auch dabei gut vorangekommen. Das Thema Lieferkette ist ja etwas älter als das Thema Ukraine und Energie, weil es schon mit der Corona-Pandemie und den Lockdowns losging. Die Unternehmen haben ihre Strategien hier angepasst. Wer beispielsweise zuvor eine Ein-Lieferanten-Strategie hatte, wechselte irgendwann zu einer Mehrlieferanten-Strategie. Wo ein Länderanteil bei bestimmten Warengruppen zu hoch ist, versuchen Unternehmen, diese Waren so weit wie möglich von woanders zu beziehen. Viele Firmen haben auch angefangen, die eigene Wertschöpfung wieder zu vertiefen, sie machen also mehr selbst und sind weniger von Zulieferern abhängig. Es gibt also eine ganze Reihe von Strategien.

Das Problem ist also gelöst?

Das würde ich nicht sagen. Aber das Bewusstsein für die Risiken in der Lieferkette und deren Lösung ist sicherlich schon weiter vorangeschritten als zum Beispiel die Beantwortung der Frage, wie man sich unabhängig von China macht.

Die Volksrepublik ist für deutsche Maschinenbauer das zweitwichtigste Absatzland. Durch die stärker werdende heimische Konkurrenz müssen sie dort aber um Marktanteile fürchten. Wird die deutsche Branche schrumpfen?

Nein, das glaube ich nicht. Rund 10 % der Exporte gehen nach China. Das ist zwar durchaus ein wichtiger Markt. Aber der Planet ist groß. Außer im Falle eines wirklich dramatischen Eskalationsszenarios, zum Beispiel ein Angriff Chinas auf Taiwan, wird das Geschäft mit China nie auf null fahren. Es wird auch nicht auf 70 % oder 80 % abstürzen. Es wird vielleicht ein Stück weit erodieren. Das führt dazu, dass die Wachstumsfantasien und Wachstumspläne, die über 20 oder 25 Jahre in China gut funktioniert haben, in dieser Form nicht mehr gelten. Das heißt aber nicht, dass der Markt in China verschwindet. Er wächst nur nicht mehr so schnell.

Laut einer DZ-Bank-Umfrage unter deutschen Mittelständlern wollen viele Firmen aus dem Bereich Metall/Kfz und Maschinenbau ihre Lieferverflechtungen mit China trotz der Risiken noch ausbauen. Wie kann das sein?

Ich kenne die Umfrage nicht. Persönlich würde ich aus unternehmerischer Sicht vermutlich bis auf Weiteres meine Lieferketten in China nicht intensivieren.

Sie wollen mithilfe von passenden Förderinstrumenten neue Absatzmärkte erschließen. Welche Regionen haben Sie im Blick?

Es stellt sich ja immer die Frage, in welchen anderen Weltmärkten man Wachstum generieren kann. Wenn wir jetzt mit rein quantitativem Fokus auf die Größe der Märkte schauen, dann sind wir natürlich schnell bei Indien. Indien wird China demnächst in der Einwohnerzahl überholen und damit das bevölkerungsreichste Land der Welt sein. Der Wohlstand in Indien wächst, teilweise noch von niedrigem Niveau aus. Aber er wächst. Wachsender Wohlstand bedeutet immer, dass Infrastrukturen geschaffen werden, dass der Konsum steigt und dass insgesamt die Investitionsgüterindustrie gefragt ist, dieses Wachstum zu begleiten. Andere Länder sind natürlich auch attraktiv, zum Beispiel Indonesien, Malaysia, Vietnam oder Australien. Auch in südamerikanischen und mittelamerikanischen Märkten und in den USA kann der deutsche Maschinenbau anteilsmäßig noch eine Geschichte schreiben.

Im In- wie im Ausland hatte der VDMA zuletzt eine gewisse Investitionszurückhaltung der Kunden verspürt. Gleichzeitig wird immer wieder auf die vollen Auftragsbücher der Firmen verwiesen. Wie lange kann man dieses Argument noch aufrechterhalten?

Die Auftragsreichweite liegt aktuell bei ungefähr zwölf Monaten. Wir haben, wenn wir die letzten acht bis zwölf Monate zurückschauen, viele Negativszenarien gehört, von Ökonomen, aber auch von Wirtschaftspolitikern, die Gott sei Dank in diesem Ausmaß nicht eingetreten sind. Die Wirtschaft, insbesondere die produzierende Industrie, hat eine erstaunliche Resilienz gegen eine ganze Reihe von externen Schocks gezeigt, und das gilt auch für den Maschinenbau. Wir haben ein sehr diversifiziertes Produkt- und Technologieportfolio, so dass Märkte, die gut laufen, immer jene Märkte ein Stück weit kompensieren können, die weniger gut laufen. Als Ergebnis sehen wir nicht nur einen sehr guten Auftragsbestand, sondern nach wie vor auch stabile Auftragseingänge. Wir befinden uns in der produzierenden Industrie sicherlich nicht in einer Krise.

Sie sagen, dass der Fachkräftemangel das drängendste Problem der Branche ist. Neben der benötigten Zuwanderung aus dem Ausland bleibt auch hierzulande noch viel Potenzial ungenutzt, etwa mit Blick auf den geringen Frauenanteil in der Branche. Was trägt der deutsche Maschinenbau dazu bei, dass es hier zu einer Verbesserung kommt?

Die allermeisten Maßnahmen laufen auf Unternehmensebene. Es gibt praktisch kein Unternehmen, das nicht irgendwelche mehr oder weniger wirksamen Programme hat, um den Frauenanteil zu erhöhen. Wir bei Hawe haben etwa eine Kostenerstattung für die Kinderbetreuung. Viele Mitglieder bieten eine Kinderbetreuung auch im eigenen Unternehmen an. Ich glaube auch, dass die Corona-Pandemie dazu geführt hat, dass dezentrales Arbeiten mittlerweile komplett in den Unternehmen akzeptiert ist. Das macht es auch für Frauen und Männer leichter, Familie und Beruf zu verbinden. Im Augenblick bin ich diesbezüglich tatsächlich optimistischer als vor zwei oder drei Jahren.

Sie haben mittlerweile die Hälfte Ihrer Amtszeit als Präsident des VDMA hinter sich gebracht. Hätten Sie Stand heute theoretisch Lust auf eine weitere Runde?

Wir sind im VDMA ja ganz streng mit uns selbst – jeder Präsident kann satzungsgemäß nur eine Amtszeit von vier Jahren an der Verbandsspitze stehen. Aber die Aufgabe macht tatsächlich unglaublich viel Freude, und es ist für mich eine große Lernkurve. Insbesondere die Zusammenarbeit mit der Politik ist spannend. Ich habe heute viel mehr Einblick und dadurch viel mehr Respekt vor der Komplexität des Berufspolitikers. Neu ist für mich auch die intensive Zusammenarbeit mit den Medien und das Vertreten einer Branche in der öffentlichen Meinung. Auch das ist eine Lernkurve, die mir wirklich Freude macht.

Gibt es denn auch Dinge, auf die Sie in Ihrem Job am liebsten verzichten würden?

Da fällt mir eigentlich nichts ein.

Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, den VDMA zu europäisieren. Warum ist das wichtig und wie weit sind Sie hier gekommen?

Wir bewegen uns ja in einem europäischen Binnenmarkt. Ob ein Hydraulik-Hersteller in Bayern, Baden-Württemberg, im Vorarlberg oder in der Lombardei sitzt, ist eigentlich gar nicht so entscheidend für die Herausforderungen, mit denen diese Firma konfrontiert ist. Vieles von dem, was wir im VDMA an Wissen und Leistung anbieten können, ist für ein italienisches, holländisches oder österreichisches Unternehmen genauso relevant wie für ein deutsches. Wir kommen bei unserer Arbeit gut voran und sind jetzt bei gut 330 VDMA-Mitgliedern, die aus anderen europäischen Ländern kommen. Und es werden immer mehr.

Das Interview führte

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