IM BLICKFELD

25 Jahre gelebter Brexit in der Schweiz

Von Daniel Zulauf, Zürich Börsen-Zeitung, 11.7.2017 "Kleinstaat Schweiz - Auslauf- oder Erfolgsmodell?" Ein neues Buch mit einer Serie von Aufsätzen über die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union wirft politische und...

25 Jahre gelebter Brexit in der Schweiz

Von Daniel Zulauf, Zürich”Kleinstaat Schweiz – Auslauf- oder Erfolgsmodell?” Ein neues Buch mit einer Serie von Aufsätzen über die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union wirft politische und wirtschaftliche Fragen auf, die das Alpenland in wechselnder Priorität und unterschiedlicher Intensität seit 25 Jahren bewegen. Damals, 1992, hatte sich die Schweizer Bevölkerung in einer denkwürdigen Abstimmung gegen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und damit für ein Leben als “Drittstaat” mitten in Europa entschieden. Vor dem Hintergrund des bevorstehenden Austritts Großbritanniens aus der EU erhält die Position der Schweiz eine besondere Note.Herausgeber und Mitautoren des Buches sind der emeritierte St. Galler Wirtschaftsprofessor Franz Jaeger und Konrad Hummler, Ex-Bankier und früherer Partner der im Zuge des amerikanischen Steuerstreits fallierten Bank Wegelin. Ein wirklich tragfähiger Konsens, wie sich die Schweiz mit Blick auf die Zukunft gegenüber der EU positionieren sollte, ist so wenig erkennbar wie eh und je. Im Dezember 1992 hatte sich eine hauchdünne Mehrheit von 50,3 % der Stimmenden für das europapolitische Abseitsstehen der Eidgenossenschaft ausgesprochen. Hummler und Jaeger möchten mit ihrem Buchprojekt einen Beitrag leisten, dass die Diskussion über eine helvetische Strategie des Nicht-EU-Beitritts endlich auch zwischen den Extremen in Gang kommt.Noch im Frühjahr schien höchste Dringlichkeit angebracht. In Bern empfing man unmissverständliche Signale aus Brüssel, dass sich das Zeitfenster für institutionelle Verhandlungen über ein Rahmenabkommen zur “dynamischen Anpassung” der bilateralen Verträge der Schweiz an das sich weiterentwickelnde EU-Recht schließen könnte, sobald die Verhandlungen über den Brexit begonnen haben. Drei Monate und eine weitere europapolitische Klausur der Schweizer Regierung später ist von derlei Zeitdruck nicht mehr die Rede. Stattdessen bestätigte Außenminister Didier Burkhalter vergangene Woche den bisherigen europapolitischen Kurs seines Regierungskollektivs (Bundesrat) praktisch ohne Änderungen. Stolperstein SchlichtungDas institutionelle Rahmenabkommen bleibt ein zentrales Verhandlungsziel für Bern wie für Brüssel. Die EU verspricht sich einen effizienten Prozess in der Umsetzung von Binnenmarktrecht – der nicht ständig durch Schweizer Referenden behindert werden kann. Und für Bern und die Schweizer Wirtschaft steht der Abschluss neuer Abkommen über den Zugang zum EU-Binnenmarkt im Vordergrund. Solche Abkommen konnten zur Enttäuschung wichtiger Wirtschaftszweige (Strom, Finanzen) seit mehr als zehn Jahren nicht mehr geschlossen werden. Als größtes Hindernis erweist sich immer mehr die Schlichtungsinstanz für Streitfälle.Bundesrat Burkhalter hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in solchen Situationen das letzte Wort überlassen würde. Ein Vorteil dieser Lösung sei, dass sie keine rechtsverbindlichen Entscheidungen durch eine supranationale Organisation zulasse. Doch das mögen die Kritiker nicht glauben. Carl Baudenbacher, Richter am Gerichtshof der European Free Trade Association (EFTA) und somit Ko-Wächter über den EWR, schreibt in dem genannten Buch: “Tatsächlich wäre die EU-Kommission, die ihren eigenen Gerichtshof einseitig anrufen könnte, das faktische Überwachungsorgan der Schweiz.” Die EU hat von Anfang an Mühe mit der offiziellen Schweizer Linie bekundet, nach der im Streitfall gestützt auf eine EuGH-Entscheidung eine für beide Parteien annehmbare Lösung gesucht werden müsse. “Ein hoher EU-Beamter ließ im privaten Gespräch durchblicken, nach einem Spruch des EuGH gebe es nichts mehr zu verhandeln”, schreibt Baudenbacher. Derlei Befürchtungen haben Konjunktur in der Schweiz. Die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei hat die nötige Unterschriftenzahl für eine Volksabstimmung über die “Selbstbestimmungsinitiative gegen fremde Richter” bereits im vergangenen Jahr gesammelt. Die Initiative dürfte 2018 zur Abstimmung kommen. Aber auch Parteien aus der Mitte des politischen Spektrums halten den EuGH als Schiedsstelle aus souveränitätspolitischen Gründen “innenpolitisch für nicht akzeptabel”. Ein absolutes “No-Go” wäre die Lösung auch für Hummler und Jaeger. Statt EU-Gesetze “kalt” zu übernehmen, sollte die Schweiz der Europäischen Staatengemeinschaft den eigenen Acquis Helvétique “als mindestens gleichwertig” vorlegen, fordern die beiden im Gespräch. Langer und zäher KampfAußenminister Burkhalter hat mit seinem vor drei Wochen vollkommen überraschend angekündigten Rücktritt zu erkennen gegeben, dass der Kampf um die offizielle Position der Schweiz in Brüssel noch lange dauern und zäh werden könnte. Die Kritiker des offiziellen Kurses monieren, dass die Regierung das alternative Modell, ein Andocken an die Institutionen der Efta-Staaten im EWR, offenbar nicht einmal für prüfenswert halte. Die Haltung des Schweizer Bundesrates dürfte freilich auch ein Ergebnis der strikten Position der EU sein. Es wird sich zeigen, ob und wie die Brexit-Verhandlungen an diesen Positionen noch etwas verändern könnten.Hummler und Jaeger plädieren für eine Strategie des Nichtbeitritts. “Ein möglichst hoher Grad von Freihandel mit dem europäischen Binnenmarkt genügt”, sagt Hummler und stellt damit die vom Bundesrat bislang als unverzichtbar behandelten bilateralen Verträge mit der EU in Frage. Spätestens hier zieht aber mindestens der große, international ausgerichtete Teil der Schweizer Wirtschaft die rote Linie. Die bilateralen Verträge einschließlich der Abkommen über Technische Handelshemmnisse sind nach Auffassung des Handelsexperten und emeritierten Schweizer Wirtschaftsprofessors Heinz Hauser unverzichtbar für die privilegierte Stellung des Landes als europäischer Hub für den Welthandel. Unter Verweis auf den Schweizer Volksentscheid über die Masseneinwanderung aus dem Jahr 2014 schreibt Hauser: “Wenn wir Einschränkungen unilateral umsetzen, ist das Risiko enorm hoch, dass wir die Bilateralen als Gesamtpaket verlieren. Damit würde unsere Hubfunktion ernsthaft gefährdet. Dieses Risiko dürfen wir nicht eingehen.” Dass den britischen Wählern beim Gedanken an die Folgen eines harten Brexit jüngst gerade etwas unwohl geworden war, weshalb sie der Regierung von Theresa May keinen Blankocheck ausstellen wollten, versuchen Jaeger und Hummler mit Fassung zu tragen: “Wir sollten sicher versuchen, uns mit Großbritannien in Sachen Freihandel abzustimmen, aber wir können uns nicht auf die Engländer verlassen.” Die Schweiz müsse ihre eigene Strategie des Nichtbeitritts formulieren.