LEITARTIKEL

48 Stunden im Mai

Heute beginnt die Europawahl. Über vier Tage erstreckt sich der Urnengang, weil die EU nationale Besonderheiten, Traditionen und Wahltage berücksichtigt. Dass heute ausgerechnet die Briten (zusammen mit den Niederländern) den ersten Aufschlag...

48 Stunden im Mai

Heute beginnt die Europawahl. Über vier Tage erstreckt sich der Urnengang, weil die EU nationale Besonderheiten, Traditionen und Wahltage berücksichtigt. Dass heute ausgerechnet die Briten (zusammen mit den Niederländern) den ersten Aufschlag machen, gehört zu den zahlreichen Skurrilitäten der Abstimmung. Morgen und übermorgen folgen eine Handvoll weiterer Länder, bevor ein Gros der 426 Millionen Wahlberechtigten in der EU dann am Sonntag seine Stimme abgibt. Die letzten Wahllokale schließen an dem Tag in Italien um 23 Uhr. Und erst dann können nationale Endergebnisse und belastbare Prognosen für die Zusammensetzung des nächsten Europäischen Parlaments veröffentlicht werden. Ab dann beginnt die Uhr zu ticken – in Brüssel wie auch in allen anderen Hauptstädten der EU. Es gilt, rasch Bündnisse zu schmieden und Personalentscheidungen zu treffen. Beobachter sagen, die folgenden 48 Stunden werden entscheidend dafür sein, wer in dem großen europäischen Machtpoker die Oberhand behält.Aus dem Wahlkampf, der lange Zeit unangemessen träge vor sich hin dümpelte, der in den letzten zwei Wochen dann aber doch noch an Fahrt aufgenommen hat, haben sich fünf entscheidende Fragen herauskristallisiert. Erstens: Wie schneiden die rechtspopulistischen und EU-kritischen Parteien ab, und welchen Zugriff werden sie auf die künftige Brüsseler Politik haben? Bisher konnten diese Gruppierungen von Stimmengewinnen ausgehen. Ob der FPÖ-Skandal in Österreich daran noch groß etwas ändern wird, darüber kann bislang nur spekuliert werden. Die Sitzverteilung, die am Sonntagabend veröffentlicht wird, gibt einen ersten Eindruck vom künftigen Einfluss der Populisten. Entscheidend wird aber sein, ob sie es schaffen, ihre unterschiedlichen Vorstellungen zu schlagkräftigen Allianzen zu bündeln.Welche Rolle der völlig verkorkste Brexit beim Ausgang der Wahlen spielt und wen die Briten – für wie lange auch immer – in das Parlament nach Brüssel und Straßburg schicken, ist eine weitere offene Frage. Die unglaublichen Erfolge von Nigel Farages neuer “Brexit-Partei” lassen nichts Gutes erwarten. Und dies führt unmittelbar zu Frage 3: Sind im künftigen EU-Parlament überhaupt noch stabile Mehrheiten und Koalitionen möglich?Diese Frage muss von den Abgeordneten und ihren politischen Parteienfamilien schnell entschieden werden. Denn EU-Ratspräsident Donald Tusk hat strategisch sehr geschickt schon für Dienstagabend einen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs einberufen und damit einen gehörigen Druck aufgebaut. Wenn es dem Parlament bis dahin nicht gelingt, auf Basis des Wahlergebnisses einen Kandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten zu benennen, der eine breite Mehrheit im neuen Plenum hinter sich vereinigt, werden die Regierungschefs das Heft des Handelns wohl an sich reißen und einen eigenen Kandidaten ausklüngeln. Dann ginge es nicht mehr darum, ob Christdemokrat Manfred Weber oder Sozialdemokrat Frans Timmermans neuer Kommissionschef wird, sondern dann kämen auch wieder Namen wie Michel Barnier ins Spiel.Die Entscheidung über das Führungspersonal, das an den verschiedenen Schaltstellen der Macht die Europäische Union in die Zukunft führt, ist vor der Wahl offen wie nie. Es geht hier ja nicht nur um die Nachfolge von Jean-Claude Juncker, sondern auch um eine ausbalancierte Neubesetzung der Spitzen von EU-Rat, Europäischer Zentralbank, Europäischem Parlament und möglicherweise auch der Eurogruppe.Für Dienstagvormittag hat das EU-Parlament bereits eine Konferenz der bisherigen Fraktionsvorsitzenden angesetzt, auf der möglichst schon erste Personalentscheidungen fallen sollen. Denn allen ist auch klar: Wenn die Regierungschefs diesen Machtkampf gewinnen, ist auch das Konzept der “Spitzenkandidaten” gescheitert, das die Europawahl aufwerten und die Bestimmung des Kommissionschefs demokratischer und transparenter gestalten sollte.Und die fünfte Frage: Gelingt der EU mit dem neuen Parlament und dem irgendwann feststehenden neuen Führungspersonal auch ein inhaltlicher Neustart? Eigentlich sollte der jüngste Sondergipfel in Sibiu schon Reformen bringen. Doch der ist völlig ergebnislos versandet. In dieser Woche hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erneut eine breite Strategiedebatte gefordert. Ob dies etwas wird, hängt vor allem von den Ergebnissen der Europawahl ab. Der Urnengang beginnt heute. Und er wird spannend.——Von Andreas HeitkerMit welchem Führungspersonal die EU in die nächste Legislaturperiode geht, ist noch völlig offen. Nach der Europawahl sind hier rasche Entscheidungen gefragt.——