Arbeitszeit muss erfasst werden

EuGH-Urteil löst Debatte um Stechuhr für alle aus - Gewerkschaften erfreut - Kritik von Arbeitgebern

Arbeitszeit muss erfasst werden

Die Mitgliedstaaten der EU müssen die Arbeitgeber verpflichten, Systeme zur Arbeitszeiterfassung einzurichten. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschieden. Das Urteil könnte auch in Deutschland die Arbeitswelt umkrempeln. Die Meinungen zu Nutzen und Effizienz gehen weit auseinander.BZ Frankfurt – Laut dem EuGH ist die Einhaltung von Höchstarbeitszeitgrenzen ein Grundrecht in der EU und die Arbeitszeiterfassung ein Mittel, es zu erfassen. Der Gerichtshof stellt fest, dass ohne die Messung der tatsächlichen Arbeitszeit weder die Zahl der Überstunden noch die zeitliche Verteilung der Arbeitszeit verlässlich ermittelt werden kann. Arbeitgeber müssen aber sicherstellen, dass Beschäftigte pro Woche maximal 48 Stunden arbeiten und täglich elf Stunden Ruhezeit am Stück bekommen.Das Urteil könnte große Auswirkungen auf den Arbeitsalltag in Deutschland haben. Nur in wenigen Branchen werden Arbeitszeiten bisher vollständig erfasst, etwa im Speditionsgewerbe. Arbeitgeber mussten nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz bisher nur Überstunden festhalten. Das genügt dem EuGH nicht, da es so für Arbeitnehmer äußerst schwierig sei, ihre Rechte durchzusetzen. Arbeitgeber sind nun dazu verpflichtet, ein “objektives, verlässliches und zugängliches System” zur Erfassung der Arbeitszeit einzurichten.Auch Heimarbeit und Außendienst müssen nach dem Urteil künftig registriert werden, jede E-Mail und jedes berufliche Telefonat könnten aufzeichnungspflichtig werden. Wie die Arbeitszeiterfassung umgesetzt wird, ist den Mitgliedstaaten überlassen. Sie dürfen unterschiedliche Vorgaben etwa für große und kleine Unternehmen treffen. Die Möglichkeiten reichen von elektronischen Chipkarten bis zu Programmen auf dem Smartphone, in kleinen Betrieben könnten auch händische Aufzeichnungen eine Alternative sein. Eine Frist setzt der EuGH nicht. Heil prüft Gesetzesänderung Das EuGH-Urteil (Rechtssache C-55/18) löste in Deutschland sofort heftige Debatten aus. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) pochte auf eine Einhaltung des Rechts, schloss Gesetzesänderungen aber nicht aus. “Die Aufzeichnung von Arbeitszeit ist notwendig, um die Rechte der Beschäftigten zu sichern”, sagte Heil am Dienstag in Berlin. “Es geht schließlich um Löhne und Arbeitnehmerrechte, das ist also auch keine überflüssige Bürokratie.” Ob nun Gesetzesänderungen in Deutschland notwendig seien, werde geprüft. Dabei werde er das Gespräch mit Gewerkschaften und Arbeitgebern suchen, “damit wir das Richtige tun und nicht übers Ziel hinausschießen”. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) begrüßt das Urteil: “Das Gericht schiebt der Flatrate-Arbeit einen Riegel vor, richtig so”, sagte Annelie Buntenbach, Mitglied des DGB-Bundesvorstands. Die Rechte der Beschäftigten blieben “viel zu oft auf der Strecke”.Die Arbeitgeber sehen das Urteil kritisch: “Die Entscheidung des EuGH zur Arbeitszeiterfassung wirkt wie aus der Zeit gefallen”, heißt es vom Bund der Arbeitgeber. “Wir Arbeitgeber sind gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert. Auf die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 kann man nicht mit einer Arbeitszeiterfassung 1.0 reagieren.” Auch der FDP-Vorsitzende Christian Lindner kritisierte das Urteil: “Hier wird ohne Not ein bürokratisches Monstrum geschaffen”, sagte er in Berlin.In dem Fall vor dem EuGH hatte eine Gewerkschaft in Spanien geklagt, wo die Rechtslage bis vor wenigen Tagen ähnlich war wie in Deutschland: Es bestand nur eine Pflicht zur Aufzeichnung der Überstunden – nicht der gesamten Arbeitszeit. Inzwischen hat die sozialistische Regierung in Spanien eine allgemeine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung eingeführt. Sie trat am Sonntag in Kraft und lief keineswegs reibungslos an. Zahlreiche Unternehmen hätten die nötigen Vorkehrungen nicht getroffen, sagte eine Sprecherin des Gewerkschaftsdachverbandes CCOO der Nachrichtenagentur dpa. Im konkreten Fall musste der EuGH im Streit zwischen einer spanischen Gewerkschaft und der Deutschen Bank SAE entscheiden. Das Urteil wird aber auch Folgen für Deutschland haben, weil die rechtliche Situation hierzulande ähnlich ist wie in Spanien.