Armut greift immer weiter um sich
Armut greift immer weiter um sich
WSI-Verteilungsbericht: Zukunftssorgen wachsen auch in der mittleren Gesellschaftsschicht – „Deutschland steckt in der Teilhabekrise“
ba Frankfurt
Immer mehr Menschen in Deutschland fürchten laut dem WSI-Verteilungsbericht, ihren Lebensstandard nicht mehr halten zu können. Die Einkommen sind so ungleich verteilt wie noch nie, und die Gruppe der Armen ist nicht nur gewachsen, sondern im Vergleich zur gesellschaftlichen Mitte sogar noch ärmer geworden. Damit verschärft sich auch die Distanz zu wichtigen staatlichen und politischen Institutionen, heißt es beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Deutschland steckt in der Teilhabekrise
„Wir sehen in den Daten, dass Deutschland in einer Teilhabekrise steckt, die sich in den vergangenen Jahren verschärft hat“, erklären die Studienautoren Dorothee Spannagel und Jan Brülle. Diese Krise habe eine materielle Seite und eine stärker emotional-subjektive. „Die materielle Seite zeigt sich am stärksten bei den Menschen in Armut.“ Für sie stünden unmittelbare materielle Mangellagen im Vordergrund, und ein Teil von ihnen wende sich relativ deutlich vom politischen System ab.
Schon 2021, also vor dem Beginn der Inflationswelle, hatten laut dem WSI 42,8% der Armen und 21,3% der Menschen in der Gruppe mit „prekären“ Einkommen etwas oberhalb der Armutsgrenze keinerlei finanzielle Rücklagen, um kurzfristige finanzielle Notlagen zu überbrücken. 9,9% der Armen waren zudem finanziell nicht in der Lage, abgetragene Kleidung zu ersetzen. Für knapp 17% der Armen waren auch der monatliche Kinoabend oder der Besuch einer Sportveranstaltung nicht drin.
Zukunftssorgen nehmen zu
Über die Coronakrise und den Inflationsschub zwischen 2020 und 2023 verschärften sich Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage bei vielen Menschen noch einmal deutlich − nicht nur unter den Ärmeren, sondern auch bis weit in die Mittelschicht hinein: Deutlich mehr als die Hälfte der Menschen in der unteren Einkommenshälfte, aber auch knapp 47% in der oberen Mittelschicht fürchteten im vergangenen Jahr, ihren Lebensstandard zukünftig nicht mehr halten zu können. Ursächlich, so erklärte Spannagel, könne die allgemeine Verunsicherung sein: Wie geht es wirtschaftlich weiter, wie sind die Auswirkungen von Inflation und Ukraine-Krieg. Eine Rolle könne aber auch die Frage der steigenden Miet-, Wohn- sowie Energiekosten spielen.
Als arm gelten Haushalte mit Einkommen unterhalb von 60% des Medians − dies entspricht beispielsweise einem monatlichen Netto von weniger als 1.350 Euro für einen Single. Von strenger Armut spricht man bei einem Einkommen von maximal 1.120 Euro im Monat. Haushalte mit prekären Einkommen haben weniger als 1.800 Euro für einen Ein-Personen-Haushalt zur Verfügung. Bei Haushalten, die zur unteren Mitte der Einkommensverteilung zählen, sind es weniger als 2.240 Euro. Zur oberen Mitte zählen die Forscher Haushalte mit einem Einkommen von 100 bis 150% des Medians.
Fortgesetzter Trend
Schon in den 2010er Jahren ist die Armutsquote mit gelegentlichen jährlichen Schwankungen im Trend spürbar gestiegen, und die Entwicklung hat sich laut WSI beinahe kontinuierlich fortgesetzt. 2021 lebten 17,8% der Menschen hierzulande in Armut, 11,3% sogar in strenger Armut. Zum Vergleich: 2010 lagen die beiden Quoten noch bei 14,2 bzw. 7,8%. Parallel dazu ging der Anteil der Menschen in einer „prekären“ Einkommenssituation von 17,7 auf 15,1% der Gesamtbevölkerung zurück. Die untere Mittelschicht wurde also geringfügig kleiner.
In allen drei Gruppen der unteren Einkommensverteilung sind Frauen, Kinder und junge Erwachsene sowie Ostdeutsche überrepräsentiert, Menschen mit Migrationshintergrund sogar spürbar. Weit überdurchschnittlich von Armut betroffen sind Arbeitslose sowie Menschen, die maximal einen Hauptschulabschluss oder keinen beruflichen Bildungsabschluss haben. Zur Einkommensmitte gehören am häufigsten Erwerbstätige in unbefristeter Vollzeittätigkeit.
Geringere Identifikation
„Verunsicherung spiegelt sich auch in der Identifikation mit der Demokratie und mit staatlichen Institutionen wider, und das besonders bei Personen mit niedrigen Einkommen“, heißt es in dem WSI-Verteilungsbericht, der den Titel „Marginalisierte Arme − verunsicherte Mitte“ trägt. Zwar sei in allen untersuchten Einkommensgruppen rund die Hälfte oder mehr der Befragten der Ansicht, dass die Demokratie in Deutschland im Großen und Ganzen gut funktioniere.
Aber es gebe deutliche Abstufungen: Lediglich knapp 50% der Armen und der Menschen mit prekären Einkommen seien mit der Demokratie im Wesentlichen zufrieden. In der unteren Mitte seien es 52%, in der oberen Mitte fast 60%. Damit korrespondiere auch die Einschätzung, ob man selbst auf die eigenen Anliegen aufmerksam machen könne: Hier steigt laut WSI die Zustimmung von etwas über 44% bei den Armen auf knapp 52% in der oberen Mitte.
Eine noch größere Entfremdung vom politischen Geschehen drückt sich den Studienautoren zufolge in der Zuschreibung aus, „die regierenden Parteien betrügen das Volk“. Die Zustimmung dazu variiert ebenfalls deutlich entlang der Einkommensgruppen: Unter den Menschen in Armut und mit prekären Einkommen halten über ein Drittel diese Aussage für zutreffend, während es bei der oberen Mitte etwas mehr als ein Viertel ist. Ähnliche Muster zeigen sich beim Misstrauen gegenüber der Polizei oder Gerichten sowie bei der Wahlbeteiligung.
Beunruhigender Befund
Da der problematische Trend bereits seit Jahren anhalte, seien die Befunde beunruhigend, schreiben Brülle und Spannagel. „Wenn mangelnde materielle Teilhabe und um sich greifende Verunsicherung dazu führten, dass in den Augen vieler Menschen auch ihre politische Teilhabe brüchig wird, hat das negative Folgen für unser demokratisches System“, warnen sie. Eine verantwortungsvolle Politik müsse auf jeden Fall darauf verzichten, verschiedene Gruppen in der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen. Warnendes Beispiel sei die Debatte um das Bürgergeld in den vergangenen Monaten.
„Politik muss Rad nicht neu erfinden“
„Es ist entscheidend, das Teilhabeversprechen glaubhaft zu erneuern, das konstitutiv ist für eine demokratische, soziale Marktwirtschaft“, betonte Bettina Kohlrausch, die wissenschaftliche Direktorin des WSI. Dabei müsse die Politik das Rad nicht neu erfinden. „Sie sollte vielmehr über Jahrzehnte bewährte Institutionen wieder stärken, die leider erodiert sind.“ Dazu zählten Tarifverträge, eine auskömmliche gesetzliche Rente und eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur, von funktionierenden Verkehrswegen und modernen Energienetzen bis zum Bildungs- und dem Gesundheitssystem. Zur Finanzierung dringend notwendiger Investitionen beitragen würde neben einer Reform der Schuldenbremse auch eine wirksamere Besteuerung sehr großer Vermögen, die zudem der gewachsenen wirtschaftlichen Ungleichheit entgegenwirken könne, so Kohlrausch.