LEITARTIKEL

Aufwachen, Europa!

Zwietracht herrscht in der Europäischen Union (EU): In den Krisenstaaten des Kontinents machen Bürger und Parteien wegen der harten Sparauflagen und der Massenarbeitslosigkeit Stimmung gegen Brüssel. Die EU, die Europäische Zentralbank (EZB) und -...

Aufwachen, Europa!

Zwietracht herrscht in der Europäischen Union (EU): In den Krisenstaaten des Kontinents machen Bürger und Parteien wegen der harten Sparauflagen und der Massenarbeitslosigkeit Stimmung gegen Brüssel. Die EU, die Europäische Zentralbank (EZB) und – vielfach sogar explizit genannt – die deutsche Bundesregierung seien für den Niedergang ihrer Wirtschaft verantwortlich, beklagen sie. Nationalpopulistische Parteien nutzen diese Stimmung aus, verschärfen die Tonlage und überbieten sich mit Heilsversprechen für den Fall eines Austritts aus der Währungsunion oder gar aus der EU. In den Geberstaaten, die mit hohen Haftungsversprechen eine Staatspleite des einen oder anderen Krisenstaats verhindert hatten, macht sich ebenfalls Unmut breit. Zum einen wegen der trotz Multimilliardenhilfen nicht recht in Gang kommenden Erholung in den Krisenstaaten und der damit steigenden Angst, die Steuergelder könnten verloren sein. Zum anderen wegen Forderungen aus eben jenen Ländern nach Vergemeinschaftung der Schulden, wegen reformunwilliger Regierungen, und wegen immer neuer Schmähungen von dort. Ein Rückfall in den Nationalismus droht, die über Jahrzehnte gewachsene Gemeinschaftlichkeit erodiert.In dieser heiklen Lage finden die Wahlen zum Europäischen Parlament statt und drohen zu einem Fest der Euro- und Europagegner zu werden. Rund ein Viertel der Sitze könnte Prognosen zufolge an diese Gruppierungen gehen. Damit sind in der gesamten Legislaturperiode politische Störmanöver zu erwarten, welche die Reputation des Parlaments weiter aushöhlen und es zu einem Tummelplatz wirrer Debatten werden lassen. Der Schaden für das Ansehen dieser demokratischsten aller europäischen Institutionen kümmert die Bürger offenbar nicht. Schon jetzt geben in Deutschland rund zwei Drittel der Wahlberechtigten an, dass sie sich wenig oder gar nicht für die Europawahl interessieren. In anderen Ländern sieht es nicht viel besser aus. Das macht es extremen Parteien leichter, ihre Anhänger zu mobilisieren. Schließlich wiegt ihre Stimme bei geringer Wahlbeteiligung umso schwerer.An dieser für das europäische Einigungswerk gefährlichen Konstellation haben die Politiker in den Hauptstädten kräftig mitgebastelt. Über Jahrzehnte wurde Brüssel für alles Übel und für alle überzogenen Regulierungen verantwortlich gemacht. Dabei kamen etwa das vielkritisierte Glühlampenverbot und die Vorgaben für den Krümmungsgrad von Gurken einst aus ihren eigenen Reihen. Und es waren auch die nationalen Ausgabenorgien und die eigene unverantwortliche Wirtschaftspolitik, die viele Staaten erst in die Krise geführt haben. Weder Brüssel noch Berlin kann die Schuld dafür aufgehalst werden.Nicht, dass die Politik nun wie immer alle Schuld nach Brüssel und anderswo abschiebt, ist die Tragik in und für Europa, sondern dass diese unverantwortliche Haltung in der Öffentlichkeit verfängt und von Populisten ausgenutzt werden kann. Das stellt alles infrage, wofür Generationen von Politikern, Unternehmern und Bürgern in Europa gekämpft haben. Inzwischen geht Umfragen zufolge nur noch eine Minderheit der Europäer davon aus, dass in Europa gemeinsame Werte geteilt werden. Das Versagen der kontinentalen Einigungspolitik könnte nicht größer sein.Aufwachen!, möchte man den Gesundbetern in Brüssel und den Zynikern in den Hauptstädten zurufen. Die Europawahl mit dem jüngst erst noch gestärkten Parlament wäre eigentlich der ideale Zeitpunkt, um die Bürger vom europäischen Einigungswerk zu überzeugen und um ihre Stimmen zu kämpfen. Doch die inhaltsleere und plumpe Wahlwerbung spricht eine andere Sprache: Die Abstimmung rangiert bestenfalls auf der unteren Aufmerksamkeitsebene, auch wenn in Sonntagsreden mit Verweis auf die Globalisierung und die neuen geopolitischen Risiken anderes verlautbart wird. Das Verfassungsgerichtsurteil, die Drei-Prozent-Hürde wegen der als zweitklassig eingeschätzten Bedeutung des Europaparlaments abzuschaffen, bestätigt die Politik in ihrer abwertenden Haltung zur Europawahl sogar noch.Womöglich ist der Versuch, die europäische Integration über eine Demokratisierung auf Ebene der Union abzusichern, doch der falsche Weg gewesen. Politik und Gesellschaft scheinen nicht reif dafür zu sein. Um aus der legitimatorischen Sackgasse zu kommen, wäre vielleicht die Etablierung einer Europäischen Kammer der nationalen Parlamente zur Kontrolle von Rat und Kommission eine erfolgversprechendere Variante.——–Von Stephan LorzEuro- und Europagegner werden bei der Europawahl triumphieren. Die bisherige Europapolitik steht vor einem Scherbenhaufen. Ein Neustart ist nötig.——-