NACH DER WAHL DER EU-KOMMISSIONSPRÄSIDENTIN

Bange deutsche Blicke nach Brüssel

Wirtschaft warnt von der Leyen bereits vor mehr Regulierung - Banken fürchten Einlagensicherung

Bange deutsche Blicke nach Brüssel

Nach der Wahl von Ursula von der Leyen zur neuen EU-Kommissionschefin haben sich Ökonomen, Wirtschafts- und Bankenverbände in Deutschland kritisch mit ihrem Programm auseinandergesetzt. Die Ankündigungen zu Mindestlohn, Arbeitslosenrückversicherung und Bankenunion erhielten wenig Beifall.Von Andreas Heitker, BrüsselDie Ankündigungen der designierten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik sind in Deutschland mit Unmut aufgenommen worden. “Zentralistische Maßnahmen wie etwa ein EU-Mindestlohn schwächen die Wettbewerbsfähigkeit der EU, anstatt sie zu stärken”, monierte etwa Gabriel Felbermayr, der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), in einer ersten Reaktion. Möglicherweise habe von der Leyen solche Zusagen machen müssen, um ausreichend Stimmen zu bekommen, doch damit bezahle sie einen hohen Preis für ihre Präsidentschaft, warnte Felbermayr. “Lohnpolitik muss Sache der Nationalstaaten bleiben.”In ein ähnliches Horn stieß gestern der Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Ingo Kramer: “Die Wettbewerbsfähigkeit muss im Vordergrund stehen, nicht neue europäische Regulierungen.”Grundsätzlich positiv hat der Verband der Familienunternehmer aus von der Leyens Ankündigungen im EU-Parlament zwar mitgenommen, dass der Mittelstand gestärkt werden solle. Wenn sie dies wirklich wolle, “würde das einen Schub für Wohlstand und gesellschaftlichen Zusammenhalt in der EU bedeuten”, sagte Verbandspräsident Reinhold von Eben-Worlée zu Reuters. “Sie sollte allerdings davon Abstand nehmen, mit einer europäischen Arbeitslosenversicherung das Umverteilungskarussell immer schneller zu drehen.” “Edis ist kein Wahlgeschenk”Von der Leyen hatte die Einführung einer Arbeitslosenrückversicherung angekündigt, die in Zukunft helfen soll, harte externe Schocks abzufedern. Über eine solche Rückversicherung als mögliche Stabilisierungsfunktion wird in der Eurozone bereits seit längerem diskutiert. Sie wird vor allem von sozialdemokratischer Seite befürwortet. Auch Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) hatte sich schon für eine solche Rückversicherung eingesetzt. In der Eurogruppe sind neue Stabilisierungsmaßnahmen für die Währungsunion zurzeit aber nur schwer durchzusetzen.Von der Leyen hatte in einer 24-seitigen Agenda zugleich darauf verwiesen, sie wolle sich auch auf die Vollendung der Bankenunion konzentrieren. “Um den Bürgern die Sicherheit ihrer Bankeinlagen zu gewährleisten, benötigen wir ein europäisches Einlagensicherungssystem”, hieß es dort. In der Eurogruppe wurde eine Entscheidung über die derzeit auf technischer Ebene geführte Diskussion um eine solche Einlagensicherung (Edis) gerade erst wieder auf Dezember vertagt. Von der Leyen fordert nun, sich so schnell wie möglich zu einigen – was aber reicht, um die deutschen Sparkassen und Genossenschaftsbanken auf die Palme zu bringen.”Edis ist kein Wahlgeschenk”, stellte Helmut Schleweis, der Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV), noch einmal klar. Die Wahl einer Deutschen zur EU-Kommissionspräsidentin habe nichts daran geändert, dass eine Vergemeinschaftung der Einlagensicherung falsch sei. Europäische Solidarität dürfe nicht bedeuten, eigene Lasten systematisch auf andere zu verschieben. Ähnliche Töne kamen von Marija Kolak, Präsidentin des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken. Eine bittere Lehre der Finanzmarktkrise sei die Erkenntnis gewesen, dass Risiko und Haftung nicht noch einmal auseinanderfallen dürften, erklärte sie. Das gelte besonders für alle Schritte bei der Reform der Wirtschafts- und Währungsunion und insbesondere der Bankenunion. Deutsche Tabus brechenDer Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, erklärte, es sei bemerkenswert, dass von der Leyen versprochen habe, als EU-Kommissionspräsidentin auch wichtige deutsche Tabus zu brechen. So habe sie mit ihren Forderungen nach Flexibilität in der Finanzpolitik und bei den Schulden, für eine Rückversicherung für Arbeitslose, für Mindestlöhne in ganz Europa, für die Vollendung der Bankenunion mit einer Einlagensicherung und für die Stärkung von Frauenrechten wohl “bewusst rote Linien der Bundesregierung und vor allem der CDU überschritten”, so Fratzscher. Dies sei ein wichtiges Signal, dass sie unabhängig und glaubwürdig handeln werde.Die Analysten der Privatbank Berenberg verwiesen in diesem Zusammenhang darauf, dass, wenn eine konservative Deutsche für mehr Reformen in der EU und der Eurozone plädiere, dies durchaus die Aussichten verbessern könne, dass sich Berlin am Ende zu substanzielleren Änderungen bereit erkläre. “Die Fortschritte auf dem Weg zu einer Bankenunion mit einer gemeinsamen Einlagensicherung werden sehr langsam, aber vielleicht nicht ganz so langsam wie sonst verlaufen”, hieß es in einer aktuellen Analyse.Beim Thema Arbeitslosenrückversicherung könne bei richtiger Vorgehensweise ein solches System dazu beitragen, größere kurzfristige Schocks abzufedern, ohne die Anreize für die einzelnen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, ihre Arbeitsmärkte zu reformieren, so Berenberg. Ob von der Leyen ihre Versprechen einhalten könne oder nicht, werde allerdings nicht unter ihrer Kontrolle bleiben.