Berlin ohne London nicht hilflos in der EU

Von Stephan Lorz, Frankfurt Börsen-Zeitung, 24.3.2017 Schon die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union (EU) war aus Sicht vieler Menschen auf der Insel ein reines Elitenprojekt: Es kam fast ausschließlich dem Großraum London...

Berlin ohne London nicht hilflos in der EU

Von Stephan Lorz, FrankfurtSchon die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union (EU) war aus Sicht vieler Menschen auf der Insel ein reines Elitenprojekt: Es kam fast ausschließlich dem Großraum London zugute. Zuletzt war ihnen die ungesteuerte Zuwanderung ein Dorn im Auge, weil dies die Löhne gedrückt hat, Polen ihnen die Jobs weggenommen haben. Doch nun zeigt sich, dass auch der Brexit ein Elitenprojekt wird: London sorgt sich vor allem um seinen Finanzplatz und will gegebenenfalls mit einer radikalen Form der Deregulierung und des Freihandels gegensteuern. Die Bürger in den ländlichen Landstrichen außerhalb der Hauptstadt, in den Arbeiterstädten Birmingham und Manchester hatten sich das sicher anders vorgestellt.Der frühere britische Außenminister William Hague hat auf einer Veranstaltung der Citigroup in Frankfurt die soziale Dimension des Brexit-Votums denn auch regelrecht ausgeblendet, stattdessen den Ärger über die Macht Brüssels, die Anmaßungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und die Zuwanderung dafür verantwortlich gemacht. Dass London bei der Osterweiterung selber darauf gedrungen hat, die Freizügigkeit bloß nicht zu begrenzen, gestand er erst auf Nachfrage zu.”Brexit heißt Brexit – und darum wäre es unvereinbar, wenn etwa das britische Finanzzentrum weiter von außerhalb des Landes reguliert wird”, mahnte er. London müsse wieder die Kontrolle über Grenzen, Zuwanderung, Regulierung und das Recht haben. Luxemburg und Brüssel dürften nicht mehr reinreden.Nach Ansicht von Michael Hüther, des Direktors des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, wird das “böse Erwachen” für Großbritannien erst noch kommen, wenn die Menschen im Laufe der Scheidungsverhandlungen erkennen, was sie verlieren werden, prophezeite er bei einem Vortrag der “Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1947”. Die Kampagne für den Austritt sei “auf Lügen” aufgebaut. Und noch heute mache man sich Illusionen über die weitere Entwicklung, erfreue sich wie der britische Außenminister und Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson seiner kecken Äußerungen, wonach es “auch vollkommen okay” sei, wenn es kein Abkommen mit Brüssel gibt.Im Kern, so Hüther, sei ein innerbritisches Verteilungsproblem am Brexit schuld. Bis heute traue man sich nicht an dessen Lösung heran. Das Wachstum sei nahezu ausschließlich dem Großraum London zugutegekommen.Die Verhandlungsposition Londons sei insofern “nicht so lustig, wie Boris Johnson es darstellt”. Und je länger verhandelt werde, desto mehr stellten sich die negativen Effekte ein. Hüther kann sich sogar vorstellen, dass es dann doch noch ein Zurück vom Brexit gibt. Geradezu fatal wäre es vor diesem Hintergrund indes, so Hüther, wenn man den Briten nun Sonderrechte zugestehen würde, wie dies der frühere Ifo-Chef Hans-Werner Sinn vorschlägt. Man dürfe das bisherige Verhältnis Berlin – London auch nicht glorifizieren. Deutschland sei ohne Großbritannien “nicht hilflos in der EU”. ——–Die Positionen vor den Brexit-Gesprächen aus Sicht von William Hague und Michael Hüther——-