Brasilien steht bereits vor der nächsten Regierungskrise

Nun könnte auch der neue Staatspräsident Temer in den Strudel von Schmiergeldaffären geraten - Wirtschaft weiter unter Druck

Brasilien steht bereits vor der nächsten Regierungskrise

Von Andreas Fink, Buenos AiresDie Freude währte nur kurz für Michel Temer. Am 13. Dezember konnte Brasiliens Präsident das strikteste Spargesetz der letzten 30 Jahre endlich durch den Senat bringen, ein Kernstück seiner Reformagenda und deutliches Ausrufezeichen für die Investoren. Doch nur wenige Stunden später musste er den Rücktritt eines seiner engsten Berater entgegennehmen. José Yunes, seit Jahrzehnten Temers Freund und Strippenzieher, soll eine illegale Millionenspende des Großkonzerns Odebrecht angenommen haben. Und, schlimmer noch: diese wurde angeblich erbeten vom Chef der Partei PMDB – also von Michel Temer. Hohe ArbeitslosigkeitBrasilien droht eine neue Regierungskrise. Auch nach drei Jahren Rezession, nach der Absetzung der glücklosen Präsidentin Dilma Rousseff und der Amtsübernahme durch den vormaligen Vizepräsidenten Michel Temer ist kein Ende der Misere bei Südamerikas Riesen in Sicht. Die wirtschaftlichen Indikatoren sind weiter ernüchternd – die gesamte Wirtschaftsleistung hat 2016 vermutlich um 3,5 % nachgelassen, das Budgetdefizit erreichte 10 % der Wirtschaftsleistung und die Arbeitslosigkeit stieg auf fast 12 %. Aber das sind eher Auswirkungen als Gründe für die brasilianische Malaise. Deren Entzündungsherd schwelt weiter im Regierungsviertel der Hauptstadt Brasília. Die Ausbootung Dilma Rousseffs und die Abnabelung ihrer Arbeiterpartei haben daran wenig geändert.Als der 2014 zum Vizepräsidenten gewählte Michel Temer Mitte Mai die Regierungsgeschäfte antrat, verkündete er, den Reformstau abzubauen und wirtschaftshemmende Regelungen zu tilgen. Gemeinsam mit seinem Finanzminister Henrique Meirelles gelobte er, Haushaltsdisziplin in die Verfassung zu schreiben und das Pensionssystem zu reformieren, dessen enorme Kosten als Hauptverursacher des Budgetdefizits gelten. “Wir müssen ausmisten”, sagte Meirelles.Doch dann geschah wenig. Die Furcht vor heftigen Reaktionen ließ Temer zuwarten. Bis nach den Olympischen Spielen. Bis nach der endgültigen Entmachtung Rousseffs Ende August. Bis nach der Kommunalwahl Anfang Oktober. Erst als dort die Arbeiterpartei die schlimmste Schlappe ihrer Geschichte einfuhr, brachte Temer die “Pac do teto” ins Parlament – jene Verfassungsergänzung, die es dem Staat in den fünf kommenden Jahren verbietet, das Budget stärker zu erhöhen als im Rahmen der Inflation. Und die für 15 weitere Jahre Austerität diktiert.Um diesem Regelwerk Verfassungsrang zu geben, musste die Regierung es jeweils zweimal durch den Kongress und den Senat bringen. Doch auf diesem verschlungenen Wege kam es kürzlich fast zum Fall, weil Senatspräsident Renan Calheiros, ein PMDB-Parteifreund des Präsidenten Temer, am 5. Dezember von einem Richter des obersten Gerichtshofs unter Korruptionsvorwürfen abgesetzt wurde. Sein Stellvertreter aus der Arbeiterpartei kündigte bereits an, die Beschlusssitzung abzublasen. Doch dann beschloss eine Mehrheit der neun Höchstrichter, der suspendierte Senatspräsident dürfe seinen Sessel wieder einnehmen und die schwierige Geburt vollenden. Am Abend des 13. Dezember hatten die Parteifreunde Temer und Calheiros die Mutter aller Reformen durchgebracht. Ein PyrrhussiegDoch womöglich war das ja nur ein Pyrrhussieg. Denn Calheiros wurde inzwischen vom Generalstaatsanwalt in einem anderen Korruptionsfall angeklagt – und dieser betrifft den Schmiergeldsumpf um den halbstaatlichen Ölriesen Petrobras. Der Senatspräsident soll 2010 von der Baufirma Serveng 800 000 Reais angenommen haben, damals knapp 200 000 Euro. Für ihn ist dieses die erste Anklage im Zusammenhang mit Petrobras, aber es laufen noch acht weitere Ermittlungen gegen ihn. Und es könnten noch einige dazukommen.Brasília wartet auf das große Beben. Am 9. Dezember war es das Nachrichtenmagazin “Veja”, das erste Erdstöße ins Regierungsviertel schickte, und zwar genau unter den “Palast der Morgenröte”, den Dienstsitz der Präsidenten. Die Zeitschrift druckte Teile der Kronzeugenaussage von Cláudio Melo, dem früheren Direktor für institutionelle Beziehungen von Odebrecht, Südamerikas größter Baufirma. Kronzeugen en masseIm März waren die Ermittler des Petrobras-Komplotts auf das Büro des Kontaktpflegers Melo gestoßen. Und hatten dort eine Liste mit den Namen von über 200 Politikern aus 21 Parteien entdeckt. Nach diesem fatalen Fund beschloss der Konzern, reinen Tisch zu machen. Seither wartet Brasilien auf das Resultat dieser Kooperationsbereitschaft, die insgesamt 77 Top-Manager dazu veranlasste, Kronzeugenaussagen zu formulieren.Dank dieser – bemerkenswerterweise von der Präsidentin Dilma Rousseff eingeführten – Regelung konnten die Ermittler des Petrobras-Komplotts in immer höhere Sphären der Macht vorstoßen. So wurde Ex-Staatschef Lula da Silva schon viermal von der Staatsanwaltschaft angeklagt, zuletzt Mitte Dezember wegen Korruption und Geldwäsche im Zusammenhang mit dem “petrolao”.Aber auch die aktuelle Staatsspitze steht in konkretem Verdacht, seitdem der Kronzeuge Melo darlegte, dass der damalige Vizepräsident Temer ihn im Mai 2014 um eine Wahlkampfspende von 10 Mill. Reais gebeten habe, also etwa 3 Mill. Euro. Odebrecht zahlte offenbar den geforderten Betrag. Ein Teil dieser Summe wurde deklariert als Spende für den PMDB-Kandidaten in Sao Paulo. Der Rest sei in bar übergeben worden – und zwar an Temers Intimus Yunes, so der Kronzeuge Melo.Die Nervosität nach dem Bekanntwerden dieser Aussage multiplizierte sich, nachdem die Tageszeitung “Folha de Sao Paulo” meldete, dass CEO Marcelo Odebrecht die Darstellung seines Lobbyisten bestätigt habe. Der im März zu 19 Jahren und 4 Monaten Haft verurteilte Firmenchef gab zudem an, dass an dem Treffen fünf Monate vor der Präsidentschaftswahl auch Eliseu Padilha teilgenommen habe, Brasiliens aktueller Kabinettschef im Ministerrang.Sowohl Temer als auch Padilha bestritten leidenschaftlich alle Vorwürfe, aber der Rückzug des Vertrauten Yunes half ihnen nicht sonderlich bei ihrer Argumentation. In der Hektik, die sich alsbald der Hauptstadt bemächtigte, sei Temer aus Reihen der Regierungskoalition sogar ein Rücktritt nahegelegt worden, meldeten mehrere Medien. Tatsächlich lag die Zustimmungsrate zum Präsidenten schon vor dem Bekanntwerden der Vorwürfe bei miserablen 10 %, so das Umfrageinstitut Datafolha. Viele fragen sich, wie ein derart unbeliebter Präsident einen rigiden Sparkurs durchstehen will. Doch Temer trat sämtlichen Rücktrittsforderungen entschieden entgegen. “Ich verschwende keinen Gedanken daran”, sagte er kurz vor Weihnachten in einem TV-Gespräch mit mehreren Journalisten. Kontinentalbeben drohtWie ernst die Führung von Odebrecht ihren Schwenk nimmt, zeigt jener Deal, den der Konzern und seine Chemietochter Braskem am 22. Dezember mit der US-Justiz geschlossen haben. Die Brasilianer sind bereit, die Rekordstrafe von 3,5 Mrd. Dollar zu bezahlen, um ein weiteres Strafverfahren in den USA zu vermeiden. Nach den Berichten über die Schmiergeldabteilung bei Odebrecht ermittelte die US-Justiz wegen Verletzung des US-Gesetzes über Korruption im Ausland. Die US-Behörden fanden heraus, dass über Odebrecht-Konten in Steuerparadiesen – die Firma nutzte bevorzugt die Filiale der Meinl Bank auf der Karibikinsel Aruba – von 2001 bis 2016 etwa 788 Mill. Dollar an Schmiergeldern gezahlt wurden.Die Empfänger kamen aus 12 Ländern, am meisten floss auf Auslandskonten von Politikern aus Venezuela und der Dominikanischen Republik. Aber auch in Kolumbien, Peru und Argentinien schrillten nach der New Yorker Einigung die Alarmglocken. Das brasilianische Erdbeben könnte kontinentale Ausmaße annehmen.