Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro steht vor seinem Lackmustest

An der Rentenreform sind schon die Vorgängerregierungen gescheitert - Bürger fürchten Einschnitte - Wirtschaft fordert Reform

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro steht vor seinem Lackmustest

Von Andreas Fink, Buenos AiresZwischen Sommerferien und Karneval macht sich Brasiliens neue Regierung an die Entschärfung einer existenzbedrohenden Bombe. Am Mittwoch wird Präsident Jair Bolsonaro persönlich eine Gesetzesvorlage in den neu formierten Kongress einbringen, um ein Rentensystem zu reformieren, welches das gesamte Land zu ruinieren droht.Das Gelingen des Reformprojektes, das bereits die Vorgängerregierungen Rousseff und Temer versucht, aber nicht fertiggebracht hatten, ist so etwas wie der Lackmustest für die neue Regierung. Während Brasiliens Bürger massive Einschnitte befürchten, verlangen Wirtschaft und Investoren die Erneuerung eines Pensionsschemas, das fraglos die Hauptverantwortung für Brasiliens Haushaltsprobleme trägt. Präsident Bolsonaro, der im Oktober 2018 mit 55 % der Stimmen gewählt wurde und große Erwartungen bei seinen Landsleuten ausgelöst hat, bekannte vorige Woche: “Ich würde am liebsten keine Rentenreform durchführen. Aber es muss sein, denn sonst ist Brasilien 2022 oder 2023 bankrott.” Private KapitalisierungNoch wurden wenig Details über das Projekt publik, das nach dem Willen des Finanz- und Wirtschaftsministers Paulo Guedes von der bisherigen reinen Steuerfinanzierung auf zumindest teilweise private Kapitalisierung umschalten soll. Der einzige bekannte Punkt ist die erstmalige Festlegung eines Mindestrentenalters von 62 Jahren für Frauen und 65 Jahren für Männer. Die Übergangsfrist bis zur vollen Gültigkeit des neuen Schemas soll zwölf Jahre betragen. Derzeit gibt es in Brasilien zwei große Rentensysteme: das Allgemeine Sozialversicherungssystem (RGPS) für Arbeitnehmer aus der Privatwirtschaft sowie die staatlichen Sozialversicherungssysteme (RPPS) für öffentliche Arbeitnehmer und Angehörige des Militärs.Das RGPS versorgt mehr als 30 Millionen Menschen und kennt bislang kein Mindestrentenalter. Männer können nach 35 Beitragsjahren und Frauen mit 30 Beitragsjahren in Rente gehen, weshalb Männer heute im Durchschnitt mit 56 Jahren und Frauen mit 53 Jahren aus dem Arbeitsleben scheiden. Wer keine Beiträge zum System geleistet hat – das ist in einem Land mit einer Schattenwirtschaft von annähernd 40 % tatsächlich ein erheblicher Teil der älteren Bevölkerung -, kann mit 65 Jahren (Männer) und 60 Jahren (Frauen) eine Grundrente beziehen, die nicht unter dem Mindestlohn liegen darf. Dieser rangiert heute bei 954 Reais, etwa 255 Dollar.Für Staatsangestellte liegt das Mindestrentenalter bei 55 Jahren für Männer und 50 Jahren für Frauen. Und die Leistungen unterscheiden sich erheblich von denen des allgemeinen Pensionssystems: Staatsangestellte beziehen im Durchschnitt 9 000 Reais (2 420 Dollar). Militärs im Ruhestand gar 13 700 Reais (3 180 Dollar). Aber die Renten für Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft übersteigen im Durchschnitt kaum 1300 Reais (350 Dollar).In der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas, mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 76 Jahren, erreichte das Rentendefizit im vergangenen Jahr den historischen Höchststand von 290,3 Mrd. Reais, etwa 78,4 Mrd. Dollar. Das entspricht 4,25 % des Bruttoinlandsproduktes. Insgesamt betragen Brasiliens Gesamtausgaben für Renten etwa 13 % des BIP. Das Rentenloch gilt als Hauptverursacher des seit fünf Jahren in Folge registrierten Primärdefizits, das im Vorjahr etwa 120 Mrd. Reais betrug, etwa 32,5 Mrd. Dollar.Bereits seit 1997 übersteigen die Ausgaben für Rentenleistungen die Einnahmen. Aber mit der schlimmsten Rezession der Landesgeschichte in den Jahren 2015 und 2016, als die brasilianische Wirtschaft um gesamt fast 8 % schrumpfte, verschärfte sich die Situation. Die Bruttostaatsverschuldung entsprach im Vorjahr bereits 77 %. Zu Anfang des Jahrzehnts hatte sie bei etwa 50 % gelegen.Das wirtschaftliche Szenario hat sich seit dem Ende der Rezession nur mühsam verbessert, mit einem Anstieg des BIP um 1,3 % im Jahr 2017 und einem ähnlichen Wert im vergangenen Jahr, offizielle Zahlen werden Ende des Monats publiziert. Die Inflation sank zwar auf 3,7 %, aber die Arbeitslosigkeit bleibt mit 11,6 % hoch, ebenso der Grad der Informalität. 11,5 Millionen Menschen arbeiten im Schatten des geregelten Wirtschaftssystems.Des Rentenspezialist Pedro Fernando Nery errechnete, dass die Rentenausgaben heute bereits 58 % des Staatshaushalts ausmachen. Falls keine Änderungen vorgenommen würden, könnten sie bis 2026 etwa 79 % verschlingen; dem Staat blieben dann für Personal, Gesundheit, Bildung, Sicherheit und andere vom Staat erbrachte Leistungen nur noch 21 % seiner Einnahmen. Neiddebatte drohtNach den Kalkulationen des Guedes-Teams würde Brasilien mit der vorgelegten Änderung im nächsten Jahrzehnt eine Bill. Reais, etwa 270 Mrd. Dollar, einsparen. Allerdings betrifft der Reformvorschlag nur die Ruheständler der Privatwirtschaft. Die privilegierten Systeme für Staatsdiener und Streitkräfte sollen später modifiziert werden, was angesichts der heute schon ungleichen Verteilung eine massive Neiddebatte auslösen dürfte. Allerdings sind die Staatsrenten ein sehr heikles Thema in einer Regierung, die von einem Ex-Militär geleitet wird, dessen Stellvertreter ein pensionierter General ist und in dem mittlerweile acht ehemalige Offiziere Ministerien leiten. Um ihre Reform durch Kongress und Senat zu bringen, benötigt die Regierung die Unterstützung von jeweils drei Fünfteln der Mandate beider Kammern. Für Bolsonaro, dessen Partei PSL nur 10 % der Abgeordneten und 5 % der Senatoren stellt, wird das eine harte Probe. Weil in Brasilien die Abgeordneten direkt und nicht über Parteilisten gewählt werden, könnten viele davor zurückschrecken, gleich zu Beginn der Legislatur ihren Wählern soziale Härten anzutun. Mehr als die Hälfte der 514 Kongressmitglieder sind neu und noch etwas orientierungslos in Brasilia, was, so fürchten manche Beobachter, das Abstimmungsverhalten beeinflussen könnte.Allerdings gehört weit mehr als die Hälfte der Abgeordneten dem konservativen Lager an, darauf stützen Wirtschaftskreise ihren Optimismus. Seit Mitte September die Umfragen einen Wahlsieg Bolsonaros ankündigten, brummte die Börse in Sao Paulo. Der Ibovespa-Index, der am 13. September bei etwa 75 000 Punkten lag, rangiert heute bei 97 000, Anfang Februar hatte er fast 99 000 Punkte erreicht.Allerdings bekam die allgemeine Zuversicht in letzter Zeit einige Dämpfer. Dazu zählen insbesondere der Bruch eines Damms in einem Abraumbecken des Erzgiganten Vale, dem mehr als 300 Menschen zum Opfer fielen. Zu einer solchen Katastrophe kam es schon 2015.