ALLES AUF GRÜN - KÖPFE DES JAHRES

Brexit-Gewinner

hip - Alexander Boris de Pfeffel Johnson (55) ist am Ziel angelangt. Drei Jahre später als von allen erwartet, die ihm vorgeworfen hatten, sich aus Karrieregründen an die Spitze der Brexit-Befürworter gesetzt zu haben, wurde der ehemalige...

Brexit-Gewinner

hip – Alexander Boris de Pfeffel Johnson (55) ist am Ziel angelangt. Drei Jahre später als von allen erwartet, die ihm vorgeworfen hatten, sich aus Karrieregründen an die Spitze der Brexit-Befürworter gesetzt zu haben, wurde der ehemalige Bürgermeister von London mit überwältigender Mehrheit als Premierminister des Vereinigten Königreichs im Amt bestätigt.Die Versuche seiner Gegner, ihn als Lügner und Rassisten zu diskreditieren, fanden wenig Anklang bei den Wählern. Der aus der Londoner City Hall lautstark erhobene Vorwurf der Vetternwirtschaft ließ sich nicht belegen. Nichts deutete am Ende darauf hin, dass er einst seinen Einfluss als Londoner Bürgermeister genutzt hat, um der US-Geschäftsfrau Jennifer Arcuri, mit der er angeblich ein Verhältnis hatte, rechtswidrig öffentliche Mittel zuzuschanzen. Alles in allem fanden seine Feinde trotz des schillernden Lebenswandels von Johnson überraschend wenig Dreck für die große Schlammschlacht um das höchste Amt im Land. Parteifeinde wie Michael Gove wurden auf Linie gebracht. Nun haben Johnsons Tories 80 Sitze mehr im Unterhaus als die Opposition – ein starkes Mandat für weitreichende politische Veränderungen. Ein zügiger EU-Austritt gehört dazu.Um das Amt nach dem wenig würdevollen Abgang von Theresa May im Juli zu erlangen, musste Johnson lediglich die Parteibasis hinter sich bringen. Das war angesichts des Umstands, dass die Mitglieder der Tories weitaus konservativer sind als ihre Wähler, kein Problem für “Boris”, den kumpelhaften, schusseligen Typ mit der betont unordentlichen Frisur, den Johnson gern darstellt. Dabei verfügt der Mann, der diese Rolle spielt, über großes Organisationstalent und Intelligenz. Seine Familie nennt ihn angeblich Al, eine Kurzform von Alexander, ein weiterer Hinweis darauf, dass es sich bei Boris um eine Kunstfigur handelt.Spätestens seit seinem Rücktritt als Außenminister im Jahr 2018 war klar, dass der Churchill-Biograf die Hoffnung auf das Amt des Premierministers nie aufgegeben hat. Er ritt geschickt auf der Welle der Empörung, die all diejenigen umtrieb, die sich in ihrer Hoffnung auf einen klaren Schnitt mit der EU betrogen sahen. Als Journalist der “Times” und des “Daily Telegraph” hatte Johnson Gelegenheit, seine Ausdrucksfähigkeit zu schärfen, unter anderem als Berichterstatter aus Brüssel. Egal, ob es um Afrikaner, Muslime oder Schwule geht: Political Correctness kümmert den gebürtigen New Yorker nicht. Deshalb halten viele seiner Anhänger den Rechtsaußen der Tories für ehrlich und echt.Die Versuche seiner Gegner, ihn mit Hilfe von aus dem Zusammenhang gerissenen, jahrzehntealten Zitaten aus seinen Artikeln als Rassisten oder Feind des Islam zu diskreditieren, wirken so hilflos wie vergleichbare Anstrengungen gegen Donald Trump in den USA. Allerdings stammt der leidenschaftliche Radfahrer aus einer ganz anderen Welt als seine neuen Wähler in den nordenglischen Armutsregionen. Anders als der neureiche Emporkömmling Trump ist Johnson ein fester Bestandteil des britischen Establishments. König George II. gehört ebenso zu seinen Vorfahren wie der Journalist Ali Kemal Bey, der einst dem Großwesir des Osmanischen Reichs als Innenminister diente. Seine Verwandtschaft mit Bey nutzt er geschickt als Schutzschild gegen Islamophobie-Vorwürfe. Seine Urgroßmutter übersetzte die Werke Thomas Manns ins Englische.Heute belegt der Johnson-Klan der “New York Times” zufolge im britischen Leben einen Platz “irgendwo im weiten, formlosen Raum zwischen den Kennedys und den Kardashians”. Und obwohl sich Bruder Jo, Schwester Rachel und Vater Stanley mit unterschiedlicher Vehemenz gegen den Brexit ausgesprochen hatten, gilt mittlerweile wieder: Blut ist dicker als Wasser.Verbiegen müssen sich seine Familienangehörigen dafür nicht, denn Johnson ist kein Radikaler, das hat er in seiner Zeit in der Londoner City Hall unter Beweis gestellt. Hinter den marktradikalen Sprüchen verbirgt sich ein überzeugter Liberaler, der sich in dem immer wieder bemühten Artikel, in dem er Burka-Trägerinnen mit Briefkästen und Bankräubern verglich, für das Recht muslimischer Frauen auf Vollverschleierung aussprach. Er ist zudem in jeder Hinsicht sehr pragmatisch. Kein Wunder also, dass die Puristen von der Brexit Party ihm nicht über den Weg trauten und dass Nigel Farage seinen Wahlzettel ungültig machte.Nun liegt es an Johnson, ob er den Austritt aus der EU als Aufbruch zu neuen Ufern verkaufen kann. Als Premierminister wird er nicht mehr vor kritischen Fragen flüchten können wie noch während des Wahlkampfs, als sich mitunter seine schüchterne und unsichere Seite zeigte. Nach dem Sieg schaltete er schnell von Wahlkämpfer auf Staatsmann um und rief das Land nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses zur Versöhnung auf. Sein Appell an einen “Can do”-Geist, wie er das Amerika der sechziger Jahre beseelte, wirkt jedoch mit Blick auf die tiefe Zerrissenheit Großbritanniens etwas hilflos.