Brexit verändert Parteienlandschaft
Die neue Partei des ehemaligen Ukip-Chefs Nigel Farage ist in den Umfragen zur Europawahl zur stärksten Partei geworden. Noch bemerkenswerter ist allerdings, dass The Brexit Party bei einer Neuwahl zum britischen Unterhaus aus dem Stand 49 Mandate holen könnte.Von Andreas Hippin, LondonDie anhaltende Hängepartie um den britischen EU-Austritt hat zu dramatischen Veränderungen in der britischen Parteienlandschaft geführt. Umfragen zeigen, dass The Brexit Party, das neue Vehikel von Nigel Farage, bei der Wahl zum EU-Parlament mehr Stimmen erhalten könnte als Konservative und Labour zusammen. Ihr bislang einziger Programmpunkt: den Brexit endlich vollziehen. Der Deal, den die Verwaltung im Namen von Premierministerin Theresa May mit Brüssel ausgehandelt hat, ist für Farage “wie die Kapitulationserklärung einer Nation, die einen Krieg verloren hat”.Wie der Marktforscher Opinium für den “Observer” ermittelte, würden 34 % dem ehemaligen Chef der UK Independence Party (Ukip) bei der Europawahl ihre Stimme geben. Die Partei von Oppositionsführer Jeremy Corbyn käme auf 21 %, die Tories auf gerade einmal 11 %. Die Liberaldemokraten (Libdems), die sich als Anti-Brexit-Partei positioniert haben, zögen mit 12 % an der Regierungspartei vorbei. Der zweite Hoffnungsträger der Befürworter eines Verbleibs in der EU, Change UK, käme auf gerade einmal 3 %. Betrachtet man die Wahl als weiteres Referendum zur Zukunft des Landes in Europa, schneiden die Brexit-Gegner schlecht hat. Sie haben es zudem versäumt, mit einer gemeinsamen Plattform anzutreten.Noch vor zwei Jahren kamen Tories und Labour in Großbritannien zusammen auf einen Stimmenanteil von 84,5 %. Anfang dieses Jahres waren es immer noch 76 %. In den jüngsten Umfragen reicht es den beiden nicht einmal mehr zu einer einfachen Mehrheit. In weiten Teilen Europas haben die Volksparteien längst ihre Bindekraft verloren. Der Brexit hat dafür gesorgt, dass diese Entwicklung auch im Vereinigten Königreich Fahrt aufnimmt, obwohl das Wahlrecht kleine Parteien stark benachteiligt. Keine EintagsfliegeGinge es allein um die Europawahl, ließe sich The Brexit Party leicht als Eintagsfliege abtun. Schließlich war Farages Ukip beim letzten Mal auch schon stärkste Partei. Allerdings würde sein neuer Wahlverein auch bei Parlamentswahlen erstaunlich gut abschneiden. Käme es zur Neuwahl, würden Opinium zufolge 21 % ihre Stimme der Brexit Party geben. Die Tories lägen mit 22 % knapp vorn, allerdings weit abgeschlagen hinter Labour mit 28 %. In einer Umfrage des Marktforschers Comres für die Kampagne Brexit Express befindet sich Farages Partei mit 20 % vor Mays Tories mit 19 %. Es ist das schlechteste Ergebnis für die Konservativen in einer Meinungsumfrage seit Januar 1995. Wahlforscher ziehen bereits Parallelen zur Wahl in Kanada 1993, bei der die dortigen Tories eine vernichtende Niederlage erlitten, von der sie sich bis heute nicht erholt haben. Labour (27 %) macht auch bei Comres das Rennen.Ukip hatte zu ihren bislang besten Zeiten zwei Sitze im Unterhaus inne – und das nur, weil zwei Tories, Douglas Carswell und Mark Reckless, die Seiten wechselten. Aber The Brexit Party käme der Comres-Umfrage zufolge aus dem Stand auf 49 Mandate im Unterhaus und wäre damit die zweitstärkste Fraktion nach Labour. Tory-Chairman Brandon Lewis, die neue Verteidigungsministerin Penny Mordaunt und Gesundheitsminister Matt Hancock gehören zu den 46 konservativen Abgeordneten, die ihre Mandate an Kandidaten der Brexit Party verlieren würden. “Wenn die Wettbewerber um die Führung der Konservativen nicht aufpassen, wird es keine Partei mehr geben, die sie führen könnten”, sagte Andrew Hawkins, der Chairman von Comres, zu den desaströsen Zahlen. Von Labour bekäme Farage drei Mandate. Die Libdems kommen bei Opinium auf 11 %, bei Comres auf 14 % – ein Achtungserfolg für die Partei, die seit dem Ende der Koalition mit den Tories 2015 keinen Fuß mehr auf den Boden bekam. Change UK spricht Opinium 4 % zu, Comres dagegen 7 %.Matt Singh, der Gründer von Number Cruncher Analytics, warnt jedoch vor voreiligen Schlussfolgerungen. Man solle lieber noch ein paar Wochen abwarten, ob es zu einer Korrektur kommt. Auch 2009 und 2014 hätten Meinungsforscher die Wahlabsichten zu beiden Wahlen gleichzeitig abgefragt und dadurch unabsichtlich eine Übereinstimmung herbeigeführt. Allerdings habe es nie günstigere Bedingungen für eine Neuordnung des Parteiensystems gegeben.