Brüssel leitet Verfahren gegen Großbritannien ein
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Die Europäische Kommission hat ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien eingeleitet, weil die britische Regierung ihrer Ansicht nach gegen die im Zuge des Brexit vereinbarten Nordirland-Regelungen verstoßen hat. Hintergrund ist die einseitige Aussetzung von Grenzkontrollen und eine Verlängerung der Übergangsregelungen bis Anfang Oktober. Eigentlich wären diese Ende März ausgelaufen.
Brüssel wirft London vor, nach der Vorlage ihres „Binnenmarktgesetzes“ im vergangenen Jahr nun zum zweiten Mal innerhalb von nur sechs Monaten gegen internationales Recht verstoßen zu haben. Dies stelle das Nordirland-Protokoll in Frage und höhle das Vertrauen beider Seiten aus, kritisierte EU-Kommissionsvize Maros Sefcovic.
Die EU pocht auf die vereinbarten Kontrollen, um die Integrität des Binnenmarktes zu sichern und zugleich eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland zu vermeiden. Großbritannien hatte noch im Februar zugesagt, die Vorgaben aus dem Nordirland-Protokoll vollständig zu erfüllen. Das Protokoll ist integraler Bestandteil des Austrittsabkommens und seit Februar 2020 in Kraft.
In dem Schreiben wird das Vereinigte Königreich nun aufgefordert, rasche Abhilfemaßnahmen durchzuführen, um die Einhaltung der Bestimmungen des Protokolls wiederherzustellen.
London weist Kritik zurück
Großbritannien hat einen Monat Zeit, um auf den Brief zu antworten. In einem weiteren Schritt könnte der Europäische Gerichtshof finanzielle Sanktionen verhängen. Auch ein Verfahren vor einem Schiedsgericht wäre möglich.
Der britische Premierminister Boris Johnson zeigte sich gestern noch einmal demonstrativ entspannt in Bezug auf das eingeleitete Verfahren und wies die Brüsseler Kritik erneut zurück. Das Nordirland-Protokoll solle ja nicht nur Handel und Bewegung von Nord nach Süd, sondern auch von Ost nach West garantieren, sagte er. Dazu habe Großbritannien lediglich einige „vorübergehende und technische Maßnahmen“ eingerichtet, „die wir für sehr vernünftig halten“, so Johnson.
David McAllister, Vorsitzender der UK Coordination Group und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, bezeichnete die von der Kommission eingeleiteten Schritte hingegen als „folgerichtig“. Die einseitige britische Entscheidung schade der konstruktiven Zusammenarbeit, monierte der CDU-Politiker, der dazu aufrief, den Streit im gemeinsamen Nordirland-Ausschuss (Joint Committee) zu lösen.
Auch die Europäische Kommission hofft noch, dass in diesem Ausschuss ein einvernehmlicher Kompromiss gefunden wird und damit weitere rechtliche Mittel vermieden werden. In einem zweiten Brief forderte Sefcovic auch den britischen Verantwortlichen David Frost noch einmal persönlich auf, die einseitigen Ankündigungen zurückzunehmen. Frost hatte die EU-Kritik bereits scharf zurückgewiesen und die britischen Maßnahmen als rechtmäßig bezeichnet.
Für Johnson und seine Unterstützer waren die Nordirland-Regeln stets heikel, weil Nordirland damit Teil des EU-Binnenmarktes bleibt und zugleich eine Zollgrenze zum restlichen Großbritannien entsteht. Dies hatte London auch im Herbst schon mit Hilfe des umstrittenen „Binnenmarktgesetzes“ versucht zu umgehen.
Das Nordirland-Problem war von der EU-Kommission zusätzlich angefacht worden, weil die Behörde Ende Januar kurzzeitig einen Export von Impfstoffen nach Nordirland kontrollieren wollte. Dies hatte weiteres Vertrauen in das Nordirland-Protokoll zerstört. Diese Entscheidung nahm die Kommission allerdings schnell zurück und entschuldigte sich.