LEITARTIKEL

Brüsseler Spitzen

In den nächsten Tagen werden Fernsehzuschauer, Radiohörer und Zeitungsleser wieder allerhand neue Namen lernen. Denn von heute an wird die Vorberichterstattung für den EU-Sondergipfel am Samstag in Brüssel an Schwung gewinnen. Dort geht es um die...

Brüsseler Spitzen

In den nächsten Tagen werden Fernsehzuschauer, Radiohörer und Zeitungsleser wieder allerhand neue Namen lernen. Denn von heute an wird die Vorberichterstattung für den EU-Sondergipfel am Samstag in Brüssel an Schwung gewinnen. Dort geht es um die Besetzung der EU-Spitzenämter, aber es ist noch nicht klar, wer das Rennen machen wird. Daher dringen ständig neue Namen aus der Gerüchteküche in die Nachrichten.Für das Amt der Hohen Außenbeauftragten, das aktuell die Britin Catherine Ashton innehat, sind die Italienerin Federica Mogherini und die Bulgarin Kristalina Georgieva vorgeschlagen. Die 41 Jahre alte Mogherini gilt im Urteil vieler Diplomaten als politisch unerfahren. Eine Berufung zur Außenbeauftragten gerade in Zeiten, in denen die halbe Welt unter Spannung steht, sei deshalb ein Risiko, argumentieren Kritiker. Ihre Konkurrentin Georgieva kann für sich in Anspruch nehmen, krisenerfahren zu sein. Immerhin ist sie seit viereinhalb Jahren als EU-Kommissarin für Humanitäre Hilfe tätig. Trotzdem werden der Italienerin mehr Chancen eingeräumt. Denn angeblich wollen andere Regierungen – darunter die deutsche – mit einer Besetzung Mogherinis den italienischen Premier Matteo Renzi besänftigen. Es gehe die Sorge um, dass der fordernd auftretende Renzi – sollte man ihm den Personalwunsch nicht erfüllen – gemeinsam mit François Hollande neue Attacken auf Stabilitätspakt und Sparpolitik reiten könnte.Für die Nachfolge des Belgiers Herman Van Rompuy als EU-Ratspräsident sind vier Namen im Gespräch: die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt, der Ex-Premier Finnlands Jyrki Katainen, der ehemalige lettische Regierungschef Valdis Dombrovskis und der polnische Premier Donald Tusk. Thorning-Schmidt galt lange als Favoritin, hat aber wohl an Gunst verloren. Dombrovskis muss mit dem Image des Kandidaten zweiter Wahl leben, da er “nur” noch Europaabgeordneter ist und bereits eine Bewerbung für das Amt des EU-Kommissionschefs mangels Aussichten zurückgezogen hat. Tusk dürfte derzeit die besten Aussichten haben, weil er offensiv von London unterstützt wird. Allerdings heißt es, dass Tusk eigentlich gar kein Interesse hat – und nur zum Wechsel nach Brüssel bereit wäre, weil er in seiner Heimat an Beliebtheit eingebüßt hat.Diese kurze Zusammenstellung der aktuellen Vorwetten für Samstag macht das Dilemma deutlich, das die Besetzung der EU-Posten bestimmt. Um die Jobs an der Spitze reißen sich weder Angela Merkel noch Frank-Walter Steinmeier oder Sigmar Gabriel, weder der Spanier Mariano Rajoy und erst recht nicht der Brite David Cameron. Die Anziehungskraft der Brüsseler Spitzen auf nationale Politiker ist nach wie vor arg beschränkt. Bemerkenswerterweise gilt das sogar für jene Politiker, die ständig jammern, dass viel zu viel in Brüssel entschieden werde – die aber ihr Amt in ihrer politischen Heimat trotzdem nicht eintauschen wollen.Augenscheinlich ist zudem, dass auch dieses Mal taktische Erwägungen und Gegengeschäfte eine mindestens so große Rolle spielen wie die Eignung der Kandidaten. Auch sorgt der permanente Zwang zum Proporz und zur angemessenen Berücksichtigung von Ost und West, Mann und Frau, Christdemokraten und Sozialisten dafür, dass bei der Besetzung europäischer Spitzenämter häufig auf Ersatzkandidaten ausgewichen werden muss. Das zeichnet sich spätestens für die Verteilung der Ressorts unter den EU-Kommissaren ab, die in direkter Beziehung zu den Entscheidungen am Samstag stehen. Denn da bisher gerade einmal vier Länder – nicht einmal halb so viel wie in der vorigen Amtsperiode – die Entsendung einer Frau nach Brüssel vorgeschlagen haben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, das noch einmal ausgewechselt wird. Schließlich ist es aus Sicht einer Regierung, die auf ein wichtiges Ressort aus ist, nachvollziehbar, wenn sie eine weibliche Kandidatin nachnominiert, um die Chancen auf einen wichtigen Posten zu steigern. Belgien und die Niederlande denken darüber nach. Möglich, dass deshalb etwa der für einen Kommissarsposten gesetzte Jeroen Dijsselbloem, obwohl er sich für seine Amtsführung als Eurogruppenchef Lob erworben hat, am Ende ganz ohne europäischen Posten dasteht. Auch er könnte die Erfahrung machen, dass es beim Brüsseler Postengeschacher oft nicht um die Frage geht, wer dazu geeignet ist, die EU in Zeiten zu führen, in denen Großbritannien über den Ausstieg nachdenkt, Südeuropa unter Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise ächzt und die Balten fürchten, in die Konflikte des großen Nachbarn hineingezogen zu werden. Sondern um ganz andere Dinge – leider.——–Von Detlef Fechtner Für die Besetzung der EU-Ämter spielen taktische Erwägungen und Gegengeschäfte eine mindestens so große Rolle wie die Eignung der Kandidaten.——-