ENERGIE-BINNENMARKT

Brüssels Ohm'sches Gesetz

Selten kommt es vor, dass ein Vorstoß der EU-Kommission von fast allen Seiten Beifall findet. Gestern war so ein Moment. EU-Kommissar Günther Oettinger nahm einen erneuten Anlauf, um endlich die EU-Regierungen auf Trab und den Energie-Binnenmarkt...

Brüssels Ohm'sches Gesetz

Selten kommt es vor, dass ein Vorstoß der EU-Kommission von fast allen Seiten Beifall findet. Gestern war so ein Moment. EU-Kommissar Günther Oettinger nahm einen erneuten Anlauf, um endlich die EU-Regierungen auf Trab und den Energie-Binnenmarkt voranzubringen. Die deutsche Industrie (“völlig richtig”), die Windkraftbranche (Schritt “in die richtige Richtung”) und die Gewerkschaften (“Europäisierung ist sinnvoll”) fanden einige anerkennende Worte. Und selbst Greenpeace “begrüßte” die Vorschläge, wenn auch “verhalten”.Wie es scheint, gibt es – mal abgesehen von besonders bockigen Regierungen, die ihren Heimatmarkt zu schützen suchen – Konsens darüber, dass ein europäischer Binnenmarkt für Energie ein vernünftiges Ziel ist. Schließlich lassen sich Wettbewerb und Versorgungssicherheit nutzbringender organisieren, wenn 27 Netze verbunden sind und die Kapazitäten im Nachbarland in der Praxis auch nutzen. Wenn Oettinger also ankündigt, den Nachzüglern in Sachen Marktöffnung, unabhängiger Regulierung und Schutz der Endkunden auf die Füße treten zu wollen, ist das vernünftig.Der EU-Kommissar hat außerdem Recht, wenn er sich im Frühjahr die heiklen Themen Zuschusssysteme für Erneuerbare und Kapazitätsmechanismen für Engpässe vorknöpft. Brüssel will hier einen europäischen Rahmen abstecken. Ein in einigen Medien vermuteter Generalangriff auf das deutsche EEG ist indes wohl nicht geplant. Es mag daher so scheinen, als sei die EU-Kommission dieses Mal uneingeschränkt zu loben. Wohlgemerkt: Es mag so scheinen. Aber es gibt Gründe, das nicht zu tun.Denn in der EU-Kommission gilt eine ganz eigene Form des Ohm’schen Gesetzes. Dort wird einerseits die Spannung erhöht, um die EU-Staaten unter Strom zu setzen – und gleichzeitig werden Widerstände hochgefahren. So beklagt die Energiewirtschaft mangelnde Planungssicherheit, weil Brüssel keinen entschlossenen Vorstoß für verlässliche Ziele über 2020 hinaus wagt, etwa für Erneuerbare. Die Kredit- und Versicherungswirtschaft wiederum beklagt, dass die Bedingungen der Kapitalvorschriften Solvency II und CRD IV, so wie sie Brüssel derzeit modelliert, langfristige Investitionen in Netze erschweren. Kurzum: Nur wenn auch ausreichend politische Energie in diese Aspekte, die für Investitionsentscheidungen maßgeblich sind, gesteckt wird, kann ein echter Binnenmarkt entstehen. Denn wo es genug Leitungen und klare Regeln gibt, entwickelt sich der Wettbewerb über Grenzen hinweg – zur Not sogar ohne Vertragsverletzungsverfahren.