LEITARTIKEL

Chancen der Krise

Wirtschaft ist kein Selbstzweck, sie hat den Menschen zu dienen. Selten ruft sich dieser einfache Grundsatz so eindrucksvoll ins Gedächtnis, ja fordert eine so strikte Befolgung wie in diesen Tagen. Die Coronakrise stellt unser Grundverständnis vom...

Chancen der Krise

Wirtschaft ist kein Selbstzweck, sie hat den Menschen zu dienen. Selten ruft sich dieser einfache Grundsatz so eindrucksvoll ins Gedächtnis, ja fordert eine so strikte Befolgung wie in diesen Tagen. Die Coronakrise stellt unser Grundverständnis vom (Zusammen-)Leben auf den Prüfstand. Alle Regeln unseres so geordneten Alltags in der zivilisierten Gesellschaft scheinen aufgehoben: der Weg in die Schule, der Gang zur Arbeit, der Feierabend in Gesellschaft anderer Menschen, die Freizeit mit Veranstaltungen und Reisen, die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems.Es war höchste Zeit, dass die Politik gehandelt hat, in Deutschland und auch auf EU-Ebene. In diesem alles Gewohnte und damit Verlässliche auf den Kopf stellenden Umfeld haben die klaren Worte aus Berlin und Brüssel nicht nur kurzfristig für Beruhigung gesorgt, sondern – noch wichtiger – eine Perspektive für die Zeit nach dem Ausnahmezustand eröffnet.Da sind zum einen die drastischen Einschnitte ins gesellschaftliche Leben – die Bundeskanzlerin sprach von sozialen Kontakten -, die zwar schwerfallen, aber als Lohn der Einschränkung eine Verlangsamung der Virusausbreitung, eine Eindämmung der Infektionsfälle und eine Begrenzung der Todesfälle versprechen. Die Virusausbreitung so zu bremsen, dass die Kapazität unseres Gesundheitssystems nicht schlagartig überfordert ist wie zunächst in China und später in Italien der Fall, ist umso wichtiger, als wir nach Einschätzung des Robert-Koch-Instituts in Deutschland und Europa erst am Anfang der Epidemie stehen.Da sind zum anderen die Zusicherungen der Bundesregierung, der Wirtschaft wenn nötig in unbegrenzter Höhe unter die Arme zu greifen, sei es durch Kredithilfen, Konjunkturprogramme oder im Extremfall gar direkte staatliche Gelder und Verstaatlichung. Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat verstanden, wie sein Spruch vom Freitag zeigt: “Es ist die Bazooka, mit der wir das Notwendige jetzt tun. Und was wir dann noch an Kleinwaffen brauchen, das gucken wir später.” Dieses “Whatever it takes” der Politik war überfällig, nachdem die Europäische Zentralbank am Tag zuvor nur eine Bazooka mit begrenzter Munition und – aus Sicht des Kapitalmarktes – einigen Knallerbsen bieten konnte und wollte. Dennoch war es ein gutes Zeichen, dass sich die neue EZB-Präsidentin Christine Lagarde der Begrenztheit ihres währungspolitischen Arsenals bewusst ist und ein klareres Rollenverständnis als ihr Amtsvorgänger an den Tag legt. Lagardes Hinweis, es sei nicht Aufgabe der EZB, Spread-Unterschiede zwischen den Euro-Ländern auszugleichen, war auf den Punkt. Denn diese Unterschiede spiegeln nun einmal Risikounterschiede der staatlichen Emittenten Deutschland und Italien. Und wer wollte bestreiten, dass die Risikolage in dem vom Corona-Ausnahmezustand gelähmten Italien gänzlich anders ist als im nur punktuell sedierten Deutschland. Mit dieser Risikolage fertig zu werden und sie zu entspannen, ist in erster Linie Aufgabe der Politik.Die Bekämpfung der Krise und ihrer Folgen wird viel Geld kosten. Einen Teil davon muss man als konsumtive Ausgaben abschreiben. Sie sind nötig, um das Land am Laufen zu halten und Betroffene nicht abstürzen zu lassen. Der größere Teil, beispielsweise ein Konjunkturprogramm, kann als sinnvolle und langfristig rentierliche Investition verstanden und gestaltet werden. Wann, wenn nicht jetzt in einer vielfach erzwungenen Arbeitsweise über Home-Offices wäre der Zeitpunkt für Großinvestitionen in die Digitalisierung und Netzmodernisierung? Wann, wenn nicht jetzt, wo die meisten Schulen und Universitäten im Land schließen, wäre die Zeit reif für große Investitionen in moderne Bildungsinfrastruktur, die E-Learning und anderes mehr ermöglichen? Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Zeit zum Aufbau einer staatlichen, kapitalgedeckten Altersvorsorge à la Deutschland-Rente, indem sich der Staat an strauchelnden Unternehmen beteiligt und mit staatlichem Eigenkapital deren Überleben sichert? Wann, wenn nicht jetzt, könnte ein staatlicher Altersvorsorgefonds zu selten günstigen Konditionen am Markt Aktien erwerben und damit nicht nur die Kapitalmärkte stabilisieren, sondern den Steuerzahlern von heute einen Call auf ergänzende Rentenzahlungen in der Zukunft bieten?Konzertiertes Handeln der Politik – in Deutschland, in Europa, am besten global – kann die Panik der zurückliegenden Tage in konstruktive Veränderungen münden lassen. Es würde auch die Köpfe frei machen für eine rationalere Sicht auf die Pandemie und ihre wirkliche Gefahr.——Von Claus DöringDie Bekämpfung der Krise und ihrer Folgen wird viel Geld kosten. Ein Teil kann als langfristig rentierliche Investition gestaltet werden. ——