LEITARTIKEL

China hadert mit Normalität

Simuliert sie noch oder stimuliert sie schon? Die chinesische Regierung ist mit ihrer aktuellen Wirtschaftspolitik immer wieder auf semantische Spielchen angewiesen. Eine latent abkühlende Konjunktur im Reich der Mitte macht es eher...

China hadert mit Normalität

Simuliert sie noch oder stimuliert sie schon? Die chinesische Regierung ist mit ihrer aktuellen Wirtschaftspolitik immer wieder auf semantische Spielchen angewiesen. Eine latent abkühlende Konjunktur im Reich der Mitte macht es eher unwahrscheinlich, dass das offizielle Wachstumsziel einer Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 7,5 % ohne dezidierte Anschubhilfe aus Peking erreicht werden kann. Im Zuge des versprochenen Reformumbaus der Wirtschaft gelten große Stimulierungsoffensiven, sprich Konjunkturpakete, wie sie in der Vergangenheit bei Bedarf losgetreten wurden, mittlerweile allerdings als tabu.Um sich nicht die Blöße einer möglichen, knappen Zielverfehlung zu geben, wird das Wachstumsziel von Regierungschef Li Keqiang bei Redeauftritten vorsichtshalber mit etwa 7,5 % umrissen. Gleichzeitig lässt der Premier und oberste Wirtschaftslenker immer öfter wissen, dass die laufende Entschleunigung der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft im Zuge des reformgetriebenen Strukturwandels als “normal” gelten muss. Die Frage ist allerdings, wie viel Normalität Peking zu akzeptieren bereit ist, beziehungsweise wie viel Abweichung von der 7,5-Prozent-Marke nach unten sich noch mit dem “etwa” verträgt.Die letzten Tage scheinen zu zeigen, wohin die Reise geht. Premier Li spricht von notwendigen Anpassungen der Konjunkturpolitik, um das offizielle Wachstumsziel zu erreichen, aber freilich ohne großen offiziellen Stimulus. Hinter den Kulissen wird jedoch bereits seit dem Frühjahr so fleißig an immer mehr Stellschrauben gedreht, dass man sich langsam die Frage stellen darf, ob der sogenannte Ministimulus wirklich noch diesen Namen verdient. Zu Steuererleichterungspaketen für Kleinunternehmen sind gezielte Exportförderprogramme hinzugekommen, der unter tatkräftiger Mithilfe der Zentralbank nach unten geschleuste Yuan-Kurs bringt ebenfalls belebende Impulse.Die People’s Bank of China bringt entgegen dem Bekenntnis zu einer restriktiven Geldpolitik zur Eindämmung von Finanzstabilitätsgefahren sehr diskret gehaltene, aber nicht minder wirksame monetäre Lockerungsimpulse in Serie. Die Zinsen am kurzen Ende, deren Auftrieb genau vor einem Jahr die Märkte in Atem gehalten hatte, loten neue Tiefen aus. Der Geldmarkt wird ultraflüssig gehalten. Im Juni sind nun auch noch Mindestreservesätze gesenkt worden. Aber statt eines unerwünschtes Aufsehen erregenden Rundumschlags hat man sich die diskretere Variante von auf einzelne Banken oder Institutsgruppen abgestimmten Lockerungsschritten kapriziert. Auch diese sind in der Summe aber geeignet, dem Kreditvolumen gehörig mehr Umdrehungen zu verpassen.Hatte die Zentralregierung, noch zu Jahresbeginn von der großen Reformagenda beseelt, die Provinzen dazu angehalten, mit dem infrastrukturlastigen BIP-Geprotze aufzuhören, werden mittlerweile ganz andere Töne angeschlagen. Zuletzt wurden sie gar an ihre patriotische Pflichten erinnert, vorwärtszumachen und budgetierte Infrastrukturprogramme so rasch wie möglich in Gang zu setzen. Abgesehen davon stehen die von der Zentralregierung verantworteten Bahninfrastrukturprogramme wieder unter Dampf. Sie sollen in Verbindung mit forcierten sozialen Wohnungsbauprogrammen dafür sorgen, dass die von einem korrigierenden Wohnimmobilienmarkt in Mitleidenschaft gezogene Bauaktivität und schleppende Anlageinvestitionen wenigstens teilkompensiert werden.Analysten halten den Gesamteffekt des Maßnahmensammelsuriums für ausreichend, um dem chinesischen BIP in diesem Jahr mindestens 1 Prozentpunkt hinzuzufügen. Unter diesen Voraussetzungen sollte die Einhaltung des Wachstumsziels nicht wirklich ein Problem sein. Es fragt sich aber, wie tief die “normale” Wachstumsrate der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft sinken würde, wenn man auf kurzfristige Belebungsmaßnahmen ganz verzichten würde. Nach Ansicht des Internationalen Währungsfonds sollten Chinas Wirtschaftslenker nicht länger zögern, im Zuge des Übergangs auf ein nachhaltigeres und stärker konsumgeleitetes Wachstumsmodell eine graduelle Moderierung der jährlichen BIP-Expansion zuzulassen. In der Tat wäre es angemessen, wenn die chinesische Regierung das offizielle Wachstumsziel im kommenden Jahr auf 7 % zurückschrauben und in den kommenden Jahren weiter nach unten anpassen würde. Das wäre ein ganz normaler Vorgang, um wirtschaftspolitische Zielkonflikte zu entschärfen.——–Von Norbert Hellmann Peking will den Wachstumsrückgang in China als ganz normale Entwicklung verstanden wissen. Hinter den Kulissen aber wird mächtig dagegen gehalten.——-