China schlägt das nächste Lockdown-Kapitel auf
Trotz verheerender Erfahrungen mit den wirtschaftlichen Konsequenzen des zweimonatigen Lockdowns in Schanghai hält China an der rigiden „Nulltoleranzpolitik“ zu Corona fest. Auch bei minimalen Ansteckungsraten werden Millionenstädte abgeriegelt. Seit Donnerstag ist Chengdu, die Hauptstadt der Provinz Sichuan, Gegenstand eines harten Lockdowns, der den öffentlichen Transport unterbindet. Mit Ausnahme von Lebensmittelgeschäften und Apotheken wurden alle Geschäfte geschlossen, und den Bürgern ist das Verlassen der Wohnung nur in sehr beschränktem Umfang erlaubt.
Seit Aufhebung der Sperre in Schanghai Anfang Juni gibt Chengdu nun Chinas zweitgrößtes Lockdown-Szenario in diesem Jahr ab. Aus den Erfahrungen in Schanghai haben Chinas Corona-Wächter möglicherweise die Erkenntnis mitgenommen, dass ultraharte Maßnahmen wie etwa das Barrikadieren von Zufahrtsstraßen, die Einzäunung von ganzen Wohngebieten und der brutale Einsatz von Sicherheitskräften bei Zwangseinweisungen in Quarantänezentren wenig zur Epidemie-Bekämpfung beitragen, aber zu extremen Wirtschaftsschäden und sozialen Missständen führen.
Im Unterschied zu Schanghai, wo der harte Lockdown erst nach einer größeren Ansteckungswelle ausgerufen wurde, scheinen die Behörden nun bereits bei minimalen Fallzahlen mit weitreichenden Restriktionen aktiv zu werden. Im 21 Millionen Einwohner zählenden Chengdu waren 150 am Mittwoch nachgewiesene Corona-Fälle Auslöser für den stadtweiten Lockdown. In der vor allem als Technologiestandort bekannten Metropole Shenzhen wiederum haben 35 positive Coronatests (verteilt auf 18 Millionen Einwohner) ausgereicht, um zahlreiche Stadtgebiete abzuriegeln und dabei auch den weltgrößten Umschlagplatz für Elektronikwaren dichtzumachen. Parallel dazu haben zweistellige Fallzahlen auch den Industrie- und Hafenzentren Tianjin und Dalian partielle Lockdowns beschert.
Politische Motive
Die Welle der drastisch verschärften Corona-Restriktionen hat zweifelsohne auch einen politischen Hintergrund. Kürzlich wurde bekannt gegeben, dass Chinas großer Parteikongress, in dessen Rahmen die Besetzung der politischen Führungsriege für die kommenden fünf Jahre bestimmt wird, auf die Woche vom 16. Oktober vorverlegt wird. Zuvor war von einem Kongress im November die Rede. Für Staats- und Parteichef Xi Jinping ist das Parteiplenum der Festakt, mit dem seine eigentlich auf zehn Jahre begrenzte Amtszeit um fünf Jahre verlängert beziehungsweise in einen lebenslangen Führungsanspruch umgewandelt werden soll.
Da Xi die Corona-Nulltoleranz zur obersten Handlungsmaxime hochstilisiert hat, gilt es nun für regionale Parteiverantwortliche, bis zum Oktober mit allen erdenklichen Mitteln die Corona-Inzidenz zurückzudrängen, um nicht negativ aufzufallen und so die eigene Position zu gefährden. Aller Voraussicht nach dürften die neuen Lockdown-Maßnahmen in Chengdu bis zum Oktoberbeginn wieder austrudeln. Dann steht der Nationalfeiertag mit landesweiter einwöchiger Ferienpause an, dem ein „harmonischer“ Parteikongress mit Siegeserklärungen im Kampf gegen Corona folgen soll.