Corona-Schock trifft Industrie mit Verzögerung
Von Stefan Reccius, FrankfurtVon Normalität ist China weit entfernt, aber immerhin mehren sich die Anzeichen, dass die Produktion allmählich wieder anläuft. Mangels verlässlicher Zahlen leiteten Analysten das anfangs aus dem Kohleverbrauch großer Betriebe und Verkehrsstaus in den Großstädten ab. Nun meldete Chinas Statistikbehörde, dass kleine und mittelgroße Unternehmen in größerer Zahl als noch Ende Februar ihren Betrieb aufgenommen haben. Laut Analysen von Bloomberg Economics sind Chinas Produktionsstätten wieder etwas besser ausgelastet.Für die Industrie hierzulande ist das ein Lichtblick – mehr aber nicht. Die Nachfrage auf dem chinesischen Absatzmarkt ist insbesondere für die Autobauer bereits eingebrochen. Anders als Messeveranstalter, Airlines oder Reiseunternehmen trifft es viele Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes aber doppelt: Sie sind auf Vorprodukte aus dem Reich der Mitte angewiesen. Einige Lieferketten mit starkem Chinas-Fokus würden den “Stresstest” nicht bestehen, warnte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) – und das dürfte erst der Anfang sein.Denn dieser Teil des Corona-Schocks schlägt mit Verzögerung in die Produktionshallen und Auftragsbücher durch. Fracht aus China ist etwa vier Wochen auf See, dem bevorzugten Transportweg, unterwegs, bis die Container die hiesigen Häfen erreichen. Für Just-in-Time-Produzenten wird es dann schnell eng. Im Durchschnitt haben börsennotierte deutsche Industrieunternehmen laut Commerzbank-Analysen für kaum mehr als einen Monat Vorprodukte auf Lager. Inzwischen klagen erste Einkaufsmanager über längere Lieferzeiten. Michael Grömling vom Institut der deutschen Wirtschaft sagt: “Mit einem Anteil von knapp 10 % ist China der größte Lieferant von deutschen Importgütern.” Verwundbare ElektroindustrieRalph Wiechers, Chefvolkswirt des Maschinenbauverbands VDMA, warnt: “Wir müssen damit rechnen, dass sich die Auswirkungen der Corona-Krise in den nun anstehenden Berichtsmonaten deutlich in den Orderzahlen widerspiegeln werden.” Angesichts eines bislang projizierten Miniwachstums von 0,1 % von Januar bis März, analysiert die Commerzbank, könnte “allein der Lieferketteneffekt das Wachstum der deutschen Wirtschaft im ersten Quartal zum Stillstand bringen”. Eric Heymann, Experte für Industriekonjunktur bei der Deutschen Bank, erwartet, dass wegen der verzögerten Wirkung das zweite Quartal noch schwächer ausfällt. 2019 ging die Gesamtproduktion des verarbeitenden Gewerbes real um 4,7 % zurück. 2020 dürfte sie Heymann zufolge weiter sinken.In ihrer Abhängigkeit von China unterscheiden sich die Industriebranchen beträchtlich. Mit Abstand am größten ist sie in der Elektroindustrie. Vorleistungsgüter im Wert von jährlich circa 10 Mrd. Euro beziehen deutsche Elektrotechnikspezialisten aus China. Viele Unternehmen hätten ihre Wertschöpfungsketten über Jahrzehnte verfeinert, sagt Andreas Gontermann, Chefvolkswirt des Branchenverbandes ZVEI.Jetzt, da Lieferungen aus China ausbleiben, lernen manche Unternehmen ihre weit verzweigten Wertschöpfungsketten erst richtig kennen – und damit deren Schwachstellen. Die Dimension des Corona-Schocks ist deshalb ungewiss. Insgesamt aber gelte: “China hat eine kaum zu überschätzende Bedeutung für unsere Branche”, sagt Gontermann. “Das dürfte sich demnächst in schwächeren Daten niederschlagen.” Einzelne Teile entscheidendÄhnlich alarmiert zeigen sich die Maschinenbauer. China ist der wichtigste ausländische Lieferant von Maschinen, Komponenten und Teilen. Chinas Wertschöpfungsanteil an allen Vorleistungen im deutschen Maschinenbau mag mit knapp 4 % überschaubar erscheinen. VDMA-Volkswirt Wiechers verweist auf die Abhängigkeit von Schlüsselkomponenten: Fehle eine hochspezifische Steuerungseinheit “made in China”, könne nicht zwangsläufig ein Ersatzlieferant einspringen. Folge: Die gesamte Produktion ist gestört – oder steht ganz still. “Am Ende kann das dazu führen, dass eine Maschine nicht an den Kunden ausgeliefert werden kann”, sagt Wiechers.Auch angesichts des kaum absehbaren Ausmaßes der Corona-Krise klingen Industrievertreter in diesen Tagen wie die Skeptiker vom Dienst. BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang sagte unlängst: “Der deutschen Industrie droht die längste Rezession seit der Wiedervereinigung.” Bei sechs Minusquartalen seit Mitte 2018 dürfte es kaum bleiben.