IM INTERVIEW: ISABEL SCHNABEL

"Dann gibt es einen Riesenaufschrei"

Das neue EZB-Direktoriumsmitglied über die Lage der Wirtschaft, die Grenzen der Notenbank, die Probleme der Banken und die Risiken einer "grünen" Geldpolitik

"Dann gibt es einen Riesenaufschrei"

Frau Professorin Schnabel, die USA und China haben sich im Handelsstreit auf ein Teilabkommen geeinigt, und in Großbritannien herrschen nach der Wahl klare Mehrheitsverhältnisse mit Blick auf den Brexit: Können die Weltwirtschaft und die Euro-Wirtschaft jetzt wieder durchstarten?Die vergangenen Jahre waren geprägt durch große Unsicherheit, und das ist Gift für Investitionen und für die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt. Der Handelskonflikt und der Brexit waren zwei dominante Faktoren. Die jüngsten Entwicklungen sind insofern positiv zu bewerten, die Unsicherheit hat sich dadurch etwas verringert. Es zeigen sich Signale einer Stabilisierung im Euroraum. Das ist eine gute Nachricht. Mit einem nachhaltigen Aufschwung rechne ich jedoch noch nicht. Für eine Entwarnung ist es also noch zu früh?Die globale Schwäche in der Industrie hält an. Aber andere Bereiche entwickeln sich besser, wie die Dienstleistungen oder das Baugewerbe. Zugleich hat sich die Unsicherheit rund um den Handelskonflikt und den Brexit natürlich nicht in Luft aufgelöst. Man sollte es also mit der Euphorie nicht übertreiben. Statt einer Rezession befürchten viele Beobachter aktuell eher, dass die Euro-Wirtschaft dauerhaft nur schwach wachsen wird.Ich finde das nicht besonders plausibel. Wir haben in den vergangenen Jahren in einigen Mitgliedstaaten kräftige Wachstumsraten gesehen – nicht überall, aber doch in einigen Ländern. Ich erwarte keine jahrelange Stagnation des Euroraums. Allerdings wird die weitere Entwicklung davon abhängen, inwiefern die europäischen Mitgliedstaaten das Wachstumspotenzial und vor allem das Produktivitätswachstum stärken können. Was bedeutet der verbesserte Wirtschaftsausblick für die Inflation, die mit rund 1 % deutlich unterhalb des Inflationsziels der Europäischen Zentralbank (EZB) von mittelfristig “unter, aber nahe 2 %” liegt? Der EZB-Rat hat nach seiner jüngsten Sitzung von Signalen für ein Anziehen des zugrunde liegenden Preisdrucks gesprochen.Die Entwicklung der Inflation geht in die richtige Richtung, wenn auch sehr langsam. Zugleich ist es nach wie vor so, dass die 2 % noch nicht in Reichweite sind. Das Lohnwachstum ist zwar relativ stark, aber das schlägt sich noch nicht in den Preisen nieder. Die Hoffnung und die Erwartung sind, dass sich das künftig ändert und sich die Inflation allmählich auf 2 % zubewegt. Ist angesichts der fundamentalen Lage der Euro-Wirtschaft eine Geldpolitik wirklich angemessen, die sogar noch lockerer ist als auf dem Höhepunkt der Weltfinanzkrise, mit Null- und Negativzinsen und breiten Anleihekäufen (Quantitative Easing, QE)?Wenn man sich am Inflationsziel der EZB orientiert, ist es schwer zu argumentieren, dass die Geldpolitik zu locker ist. Natürlich kann man diskutieren, welcher konkrete Handlungsbedarf sich aus den beobachteten Abweichungen vom Inflationsziel ableiten lässt. Angesichts der sich abkühlenden Konjunktur gab es die Sorge, dass die Inflation wieder fallen könnte. Das erklärt, warum die EZB zuletzt wieder so aktiv geworden ist. Im aktuellen Umfeld ist es also besser, zu viel als zu wenig zu tun?Aus Sicht der Inflation ist derzeit das größere Risiko, dass sie zu niedrig ausfällt. In der Diskussion muss man außerdem verschiedene Fragen trennen: Braucht man eine lockere Geldpolitik? Und wenn ja, welche Instrumente verwendet man? Bei der umstrittenen Entscheidung des EZB-Rats im September waren alle Mitglieder der Meinung, dass man weiter eine expansive Geldpolitik benötigt. Diese Einschätzung teile ich: Es ist noch für längere Zeit eine sehr lockere Geldpolitik nötig. Es gab im September vor allem eine Diskussion über einzelne Instrumente, speziell über die Anleihekäufe. Man muss dabei immer Wirkung und Nebenwirkungen gegeneinander abwägen. Wenn die Wirkung der Instrumente abnimmt oder die Nebenwirkungen zunehmen, wird diese Abwägung virulenter. Eine sehr expansive Geldpolitik ist also angemessen, aber die QE-Neuauflage nicht?Ich war skeptisch, was die Wiederaufnahme der Anleihekäufe anging. Für mich war nicht so klar, dass man das zu diesem Zeitpunkt machen musste. In der Abwägung mit den Nebenwirkungen hätte ich wohl gesagt, dass man besser erst einmal abwartet. Die EZB hat sich nun auch unter Zugzwang gesetzt nachzulegen, wenn die Inflation nicht anzieht. Zugleich sind die geldpolitischen Mittel zunehmend begrenzt.Der Instrumentenkasten der EZB ist groß. Die EZB kann rein theoretisch vieles kaufen, sofern es das Mandat zulässt und erfordert. Zentralbanken sind erfinderisch, und sie mussten es auch sein – das haben wir in den vergangenen Jahren immer wieder gesehen. Man muss aber die Nebenwirkungen berücksichtigen. Außerdem bestehen politische und rechtliche Restriktionen. Die EZB hat sich zudem selbst Grenzen gesetzt, etwa über die Ankaufgrenzen oder die Orientierung am Kapitalschlüssel. Ob man diese Grenzen lockert oder sich vom Kapitalschlüssel abkehrt, ist eine schwierige Diskussion. Vor allem muss die EZB ihre Unabhängigkeit wahren. Eine besondere Form der Kreativität wäre Helikoptergeld, also Geldgeschenke der EZB an alle.Das wäre ein sehr weitreichendes Mittel. Da kommt man in den Graubereich zur Fiskalpolitik. Ich beobachte die Diskussion über Helikoptergeld daher kritisch. Zunehmend diskutiert wird auch über den sogenannten Umkehrzins, ab dem die Geldpolitik mehr schadet als nutzt. Wie weit ist die EZB vom Umkehrzins entfernt?Das wüsste so mancher gerne. Das ist eine empirische Frage, die sich gar nicht so leicht beantworten lässt. Das zugrunde liegende Argument ist jedenfalls sehr wichtig: Wenn geldpolitische Instrumente die Bankenprofitabilität dämpfen, kann dies die Transmission der Geldpolitik behindern, und die Geldpolitik stößt an Grenzen. Das ist eine Botschaft für die Zentralbanken, aber ebenso ein Signal an andere Politikbereiche. Die Fiskalpolitik und die Strukturpolitik müssen endlich mehr tun. Weil die Geldpolitik allein überfordert ist?Weil ein ausgewogener Policy-Mix eine bessere Wirkung zeigt. Wenn man in die Nähe der effektiven Nullzinsgrenze kommt, ist die Fiskalpolitik besonders wirksam. Die aktuellen Probleme sind zudem keine rein konjunkturelle Angelegenheit. Es geht auch um langfristige strukturelle Veränderungen. Demografie, Globalisierung, Digitalisierung – das sind langfristige Trends, mit denen die Geldpolitik nicht originär umgehen kann. Da sind andere Politikbereiche in der Pflicht. Aber das ist ja seit Jahren, seit der Finanzkrise, so: Die Geldpolitik soll alle Probleme lösen, vor allem jene, die sich politisch nur schwer lösen lassen. Das wird auf Dauer nicht funktionieren. Die Geldpolitik ist keine Allzweckwaffe. Sie haben die negativen Nebenwirkungen der ultralockeren Geldpolitik angesprochen. Was bereit Ihnen die größten Sorgen?Am offensichtlichsten sind sicher die Risiken für die Finanzstabilität. Es ist allerdings unpräzise, bei erhöhten Risiken allein von einer Nebenwirkung zu sprechen. Beim Portfolioumschichtungskanal ist gerade die Idee, dass Gelder in riskantere Papiere umgeschichtet werden. Insofern ist es beabsichtigt, dass größere Risiken eingegangen werden. Dieser Transmissionskanal war sehr effektiv, da sich hierdurch die Finanzierungsbedingungen vieler Unternehmen stark verbessert haben. Aber wir beobachten heute in einigen Ländern einen starken Anstieg der Vermögenspreise, insbesondere der Immobilienpreise. Da muss man genau hinschauen. Bei den Finanzstabilitätsrisiken geht es übrigens nicht allein um Banken. Auch bei den Versicherungen und den Investmentfonds haben sich Risiken aufgebaut. Risiken, die die makroprudenzielle Politik nicht eindämmen kann?Die makroprudenzielle Politik ist noch recht neu und bezieht sich bislang in erster Linie auf den Bankensektor. Außerdem hat sich bestätigt, was viele Wissenschaftler erwartet hatten: Es gibt Verzögerungen bei ihrem Einsatz. Deutschland ist da ein gutes Beispiel: Ab Juli 2020 soll es jetzt einen antizyklischen Puffer von 0,25 % geben. Das ist ziemlich wenig und kommt ziemlich spät. Und das ist das generelle Problem: zu wenig, zu spät. Natürlich hoffen alle, dass keine Rezession kommt. Aber wenn doch, dann drohen die gleichen prozyklischen Effekte im Finanzsystem wie in der letzten Finanzkrise. Die aufgebauten Puffer sind zu gering, um zuverlässig gegensteuern zu können. Wie groß sind Ihre Sorgen speziell um die deutschen Banken?Vor allem die größeren deutschen Banken leiden unter einer besonders geringen Profitabilität. Am meisten treibt mich um, dass dies die Banken daran hindern könnte, Investitionen durchzuführen, die erforderlich wären, um in einer digitalisierten Welt ernsthaft mitzuspielen. Das führt in einen Teufelskreis: Die Banken sind nicht profitabel, sie können nicht investieren und fallen so immer weiter im Wettbewerb zurück. Man muss auch bedenken: Wir haben einen der längsten Aufschwünge aller Zeiten erlebt. Wenn die Banken jetzt schon unprofitabel sind – was soll denn dann passieren, wenn es mal wirklich schlecht läuft? Ex-EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing warnt mit Blick auf die anhaltend ultralockere Geldpolitik und die hohe Risikoübernahme im Finanzsystem vor einer “Krise ganz neuer Dimension”.Mir scheint das ein bisschen übertrieben zu sein. Ich glaube nicht, dass wir kurz vor einer neuen Finanzkrise stehen. Das globale Finanzsystem ist nicht zuletzt durch die neuen Regulierungen und die verbesserte Finanzarchitektur deutlich robuster geworden seit der Krise. Man müsste auch die Frage stellen: Stünde das Finanzsystem besser da, wenn die Zinsen höher wären? Das wage ich zu bezweifeln. Dann hätte sich die Wirtschaft sicher deutlich schlechter entwickelt. Ich nehme an, selbst Herr Issing würde die Zinsen jetzt nicht erhöhen, wenn er noch bei der EZB wäre. Die neue EZB-Präsidentin Christine Lagarde will den negativen Nebenwirkungen künftig noch mehr Beachtung schenken. Wie kann das konkret aussehen? Heißt das, die Hürde für eine weitere Lockerung liegt höher? Oder kommt der Ausstieg schneller, wenn sich die Möglichkeit ergibt?Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Zum einen kann man versuchen, die Nebenwirkungen abzufedern. Die Staffelung beim negativen Einlagenzins ist dafür ein gutes Beispiel. Das ist ein intelligentes Instrument, um die negativen Folgen für die Bankenprofitabilität einzudämmen. Zum anderen kann die makroprudenzielle Politik stärker eingreifen. Was Sie sagen, stimmt aber auch: Ein stärkerer Fokus auf die Nebenwirkungen kann Einfluss auf die Dosierung und den Zeitpunkt des Einsatzes der unkonventionellen Maßnahmen haben. Bei dieser Abschätzung muss die EZB ihr Mandat allerdings klar im Blick behalten. Lagarde hat für 2020 eine grundlegende Überprüfung der EZB-Strategie angekündigt – die erste seit 2003. Was sollte bei Überprüfung Priorität haben?Ich möchte betonen, dass die Entscheidungen hierzu noch nicht gefallen sind. Aus meiner Sicht wäre es sicher sinnvoll, die Erfahrungen mit dem operationalen Ziel ebenso zu evaluieren wie die Instrumente. Präsidentin Lagarde hat außerdem betont, dass sie prüfen möchte, welche Rolle die Klimafrage für die Geldpolitik innerhalb des EZB-Mandats spielen kann und soll. Schließlich sollte es auch um die Kommunikation von Geldpolitik gehen. Braucht es beim Inflationsziel mehr Klarheit, weil “unter, aber nahe 2 %” recht schwammig ist, oder braucht es mehr Flexibilität?Mehr Klarheit kann sicher nicht schaden. Es gab beispielsweise immer wieder Diskussionen, ob etwa 1,7 % Inflation in Einklang mit dem Ziel stehen oder nicht. Und dann ist da noch die Frage der Symmetrie … . . . ob also eine zu niedrige Inflation genauso bekämpft gehört wie eine zu hohe Inflation. Ex-EZB-Präsident Mario Draghi hat darauf zuletzt immer stärker gepocht.Es ist nicht klar, ob das aktuelle Ziel von allen als symmetrisch wahrgenommen wird. Mir scheint, dass es ursprünglich nicht symmetrisch zu verstehen war. Das sind Dinge, die geklärt werden müssen. Sollte das Ziel explizit als symmetrisch festgelegt werden?Das muss ebenfalls diskutiert werden. Als das Ziel festgelegt wurde, war man vor allem darauf bedacht, eine zu hohe Inflation zu vermeiden. Angesichts des Erreichens der effektiven Zinsuntergrenze sind die Argumente stärker geworden, der Gefahr einer zu niedrigen Inflation eine höhere Bedeutung beizumessen. Diese Argumente muss man ernst nehmen. Wir wissen nicht genau, wo die effektive Zinsuntergrenze liegt. Aber wir wissen, dass es eine Grenze gibt. Sollte auch diskutiert werden, das numerische Ziel zu ändern, es etwa auf 1 % zu senken oder auf 3 % oder 4 % zu erhöhen?Das wird Teil der Diskussion sein. Ich sehe es allerdings eher kritisch, das Ziel einfach nach unten oder oben zu setzen. Einige EZB-Ratsmitglieder favorisieren ein Toleranzband um ein Inflationsziel – also zum Beispiel ein Band von 1 % bis 3 % rund um ein Punktziel von 2 %?Dieser Vorschlag wird ebenfalls diskutiert werden, und ich möchte der Diskussion nicht vorgreifen. Es scheint aber zumindest fraglich, ob das mehr Klarheit bringen würde. Und bei der Überprüfung der Instrumente – geht es da nur um eine Bestandsaufnahme der bisherigen Instrumente oder auch um eine Debatte über neue Instrumente?Zuerst einmal sollte man sich die Instrumente anschauen, die man eingesetzt hat, deren Wirkung und Nebenwirkungen analysieren und sich die Frage stellen, unter welchen Bedingungen welches Instrument eingesetzt werden sollte. Man muss vielleicht überhaupt ein bisschen die Erwartung dämpfen. Mit der Überprüfung wird es nicht zu einer ganz anderen Geldpolitik kommen. Viele Dinge haben sich ja bewährt. Kommen wir zum Klimawandel. Ist das wirklich eine Aufgabe der Zentralbank?Für den Klimawandel ist primär die Politik zuständig. Aber natürlich muss sich eine öffentliche Institution, die so wichtig ist wie die EZB, die Frage stellen, welche Auswirkungen der Klimawandel auf ihre Politik hat und ob und wie sie im Rahmen ihres Mandats selbst dazu beitragen kann, eine nachhaltigere Wirtschaft zu unterstützen. Es kann zum Beispiel keinen Zweifel geben, dass wir den Klimawandel in die makroökonomischen Modelle integrieren müssen. Nicht kontrovers sollte auch sein, die Risikobetrachtung zu überprüfen. Viele sind der Ansicht, dass die Klimarisiken bei der Bewertung von Kreditrisiken noch nicht angemessen berücksichtigt sind. Das betrifft dann die Regulierung und Bankenaufsicht, aber genauso den Sicherheitenrahmen der EZB. Es gibt in Europa Vorschläge, grüne Industrien bei der Bankenregulierung besserzustellen, etwa durch einen Abschlag bei den Risikogewichten. Wäre das richtig?Eine solche Bevorzugung wäre nicht sachgerecht, weil auch grüne Technologien riskant sein können, und das muss natürlich abgebildet werden. Alles andere würde das Finanzsystem destabilisieren. Andererseits gilt: Wenn man die Risikobewertung verändert, werden sich für die nicht-nachhaltigen Unternehmen die Kapitalkosten tendenziell erhöhen, und das hat natürlich relative Preiseffekte und damit die gewünschte Steuerungswirkung. Und das gleiche Prinzip würde auch für die Sicherheiten gelten, die Banken bei der EZB für Zentralbankgeld hinterlegen müssen?Genau. Bei den Sicherheiten gibt es Sicherheitsabschläge, sogenannte Haircuts, die von der Risikobewertung abhängen. Wenn sich die Risikobewertung ändert, ändern sich die Haircuts. Bleibt die Frage nach einer “grünen” Geldpolitik, also vor allem der gezielten Bevorzugung grüner Anleihen im Zuge der QE-Käufe.Ich fände es eher problematisch, wenn die EZB im Rahmen ihrer Anleihekaufprogramme grüne Anleihen bevorzugen würde. Erst einmal klingt das zwar gut: Man verbilligt die Finanzierung grüner und nachhaltiger Unternehmen. Man sollte aber nicht vergessen: Die Zentralbank braucht die Flexibilität, die Geldpolitik bei Bedarf umzukehren. Es gehört wenig Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass es bei einem künftigen Auslaufen der Käufe den Vorwurf geben würde, grüne Unternehmen würden relativ benachteiligt. Dann gibt es einen Riesenaufschrei. Darauf sollte sich die EZB nicht einlassen. Die EZB kann aber diskutieren, wie sie ihre nicht geldpolitischen Portfolios investiert. Die Debatte ist aber auch Ausdruck der zunehmenden Politisierung der EZB?Es ist seit Jahren das gleiche Muster: Wenn die Politik bestimmte Dinge nicht durchsetzen kann, dann soll die EZB einschreiten, und das hat sie in der Krise auch gemacht. Die Geldpolitik muss ja letztlich alles andere als gegeben hinnehmen und dann vor dem Hintergrund ihres Mandats agieren. Dann hat die Politik gesehen: Wir mussten gar nichts machen, und es hat trotzdem ganz gut funktioniert. Die Politik muss endlich ihre Hausaufgaben machen. Vor allem darf sie die EZB nicht immer zum Sündenbock für alles machen, wenn es dann nicht so läuft wie erhofft. Dagegen muss die EZB sich wehren. Eine andere Diskussion ist jene um einen digitalen Euro, eventuell zugänglich für alle. Das scheidende EZB-Direktoriumsmitglied Benoît Coeuré wirbt dafür.Es ist offensichtlich, dass sich Zentralbanken damit beschäftigen müssen. Schweden oder China sind hier schon viel weiter. Die EZB muss sich dieser Aufgabe stellen. Aber Privatpersonen Zugang zur Zentralbankbilanz zu gewähren hätte massive Auswirkungen auf die Struktur des gesamten Finanzsystems. Das könnte die Existenz der Banken bedrohen. Wir haben nun einmal Banken mit riesigen Bilanzen und können nicht plötzlich in eine digitale Welt ohne Banken wechseln. Gerade im Hinblick auf Pläne wie die Schaffung der Digitalwährung Libra muss die EZB diese Gefahren und mögliche Lösungen genau analysieren. Lassen Sie uns zum Schluss auf das angespannte Verhältnis zwischen der EZB und der deutschen Öffentlichkeit kommen. Gibt es vielleicht unvereinbare Vorstellungen über die Rolle einer Zentralbank in Deutschland und andernorts?Die EZB-Geldpolitik orientiert sich nicht nur an Deutschland, sondern am Euroraum als Ganzes. Das hat man in Deutschland nie so richtig verinnerlicht. Außerdem muss man verstehen, dass in der Währungsunion die Staaten eng miteinander verflochten sind. Das gilt für die Geldpolitik, weil es eine gemeinsame Geldpolitik gibt. Es gilt ebenso für die Fiskalpolitik. In Deutschland hat man noch die Vorstellung, jeder kümmert sich um sich selbst, und dann ist es gut. Tatsächlich beeinflusst die deutsche Wirtschaftspolitik aber auch die anderen Länder und umgekehrt. Wir müssen lernen, europäischer zu denken und zu handeln. Kann die Strategieüberprüfung ein Mittel sein, das Verhältnis zu kitten?Es ist meine Hoffnung und mein Ziel, dass man die Überprüfung auch dazu nutzt, die Geldpolitik besser zu erklären. Ich sehe mit großer Sorge, wie salonfähig unsachliche EZB-Kritik in Deutschland geworden ist, und zwar über große Teile des politischen Spektrums hinweg. Sachliche Kritik ist zwar nötig und wichtig. Aber eine aggressive und nicht auf Fakten beruhende Kritik an der EZB führt dazu, dass das Vertrauen in die EZB und in den Euro ausgehöhlt wird. Das Interview führte Mark Schrörs.