DIE FOLGEN DES BREXIT

"Das Brexit-Votum ist ein Weckruf"

Ökonomenstimmen zur britischen EU-Entscheidung

"Das Brexit-Votum ist ein Weckruf"

Die Börsen-Zeitung hat Stimmen gesammelt und Ökonomen befragt, was nach dem Votum der Briten für die Konjunkturentwicklung und für die Währungsunion zu erwarten ist.Jörg Krämer, Chefvolkswirt Commerzbank: Die Folgen für die deutsche Wirtschaft dürften sich in Grenzen halten. Der Brexit wird den deutschen Export nur wenig schwächen. Die Verhandlungen über das tatsächliche Ausscheiden der Briten aus der EU werden Jahre dauern; zunächst ändert sich für die Exporteure nichts. Wir gehen davon aus, dass es nicht zu einem Rosenkrieg kommen wird. Vielmehr dürften sich beide Seiten – ähnlich wie die EU mit Norwegen oder Island – auf eine bevorzugte Partnerschaft einigen; Großbritannien wird wohl weiter Zugang zum Binnenmarkt haben.Das überraschend deutliche Votum gibt den Anti-EU-Parteien in vielen Ländern der Union Rückenwind. Das trifft die EU in einer sehr schwierigen Phase. So müssten sich zumindest die Euro-Staaten eigentlich strengeren Haushaltsregeln unterwerfen oder in der Finanz- und Wirtschaftspolitik mehr Kompetenzen an Brüssel übertragen, um die ungelösten Probleme der Währungsunion zu lösen. Aber einen Aufbruch zu mehr Europa wagen die Regierungen nach einem Brexit erst recht nicht mehr.Damit bleibt die EZB als Ausputzer eingespannt. Sie dürfte ihre Geldpolitik gegen Jahresende erneut lockern. Der Brexit stellt aber bei weitem nicht ein so großes Risiko dar wie etwa die Euro-Staatsschuldenkrise ab 2010 oder gar die Lehman-Pleite 2008. Der Euroraum dürfte nicht in eine Rezession fallen. *Michael Heise, Chefvolkswirt Allianz: Die deutsche Wirtschaft erfährt einen Dämpfer, wird aber trotzdem auf Wachstumskurs bleiben. Belastungen kommen vom deutschen Export nach Großbritannien, der unter der zu erwartenden wirtschaftlichen Schwäche der britischen Wirtschaft und der Abwertung des Pfund leiden wird. Die erhöhte politische und wirtschaftliche Unsicherheit wird in ganz Europa Auswirkungen haben. Die Hauptleidtragende aber ist die britische Wirtschaft selbst. Eine wahrscheinliche Konsequenz dürfte auch sein, dass die US-Notenbank Zinserhöhungen noch weiter in die Zukunft verschiebt.Die EU wird nicht auseinanderfallen. Aber die Entscheidung der Briten ist ein schwerer Schlag für die Union. Das Brexit-Votum ist ein Weckruf. Es bedarf mehr Geschlossenheit in wichtigen europäischen Fragen. Die Union muss wieder bürgernäher werden und sich auf die großen Fragen der Politik konzentrieren. *Barbara Böttcher, Deutsche Bank: Die wirtschaftlichen Auswirkungen hängen stark davon ab, auf welcher Grundlage die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien künftig geregelt werden. Zusammen mit der nun entstandenen Unsicherheit für Investitionen wird dies zu einem Wachstumsdämpfer für die deutsche Volkswirtschaft führen. Wir erwarten für 2017 ein Wachstum von 1,3 % statt 1,6 %. Weltweit erwarten wir für nächstes Jahr keine Rezession, sondern ein Wachstum von etwas über 3 %. Allerdings sind, abgesehen vom Brexit, die Abwärtsrisiken in der jüngsten Zeit gestiegen.Auch wenn Großbritannien kein Mitglied der Währungsunion ist, wird der Austritt eines wirtschaftlich starken EU-Mitglieds auf die Eurozone ausstrahlen. Die Euro-Länder müssen sich bewusst sein, dass für eine nachhaltige Stabilität der Währungsunion strukturelle Reformen und Verbesserungen des institutionellen Rahmenwerks erforderlich sind. Leider beschränken europaskeptische Bewegungen und die gesunkene Akzeptanz der EU in der Bevölkerung die politische Handlungsfreiheit für weitere Schritte in dieser Richtung. *Jan-Pieter Krahnen, Goethe-Universität Frankfurt: Die Brexit-Entscheidung ist für die Rest-EU ein Menetekel. Sie ist nun gezwungen, sich neu zu definieren und neu zu positionieren, zum Beispiel im Rahmen eines Verfassungskonvents. Ein Orientierungspunkt könnte ein “Avantgarde-Modell” sein, bei dem sich eine Handvoll Staaten für einige ausgewählte Politikbereiche enger zusammenschließen, etwa im Rahmen eines klug konzipierten zweistufigen Bundesstaat-Modells mit einer demokratisch legitimierten Spitze, die jedoch stark eingeschränkte Handlungs- und Budgethoheit besitzt. Kurzfristig werden wir an den Finanzmärkten eine enorme Instabilität erleben, bis sich alle wichtigen Institutionen neu positioniert haben. Der Brexit ist ein schwerwiegender Test der Bankenunion. *Klaus Wellershof, Wellershof & Partners: Insgesamt ist vorstellbar, dass Konsumenten und Unternehmer auch in der Eurozone vorsichtiger werden. Der Aufschwung ist aber so breit abgestützt, dass wir keine wirkliche Gefährdung der Erholung Kontinentaleuropas sehen. Wir haben jedoch große Sorgen, dass die USA ihr Wachstumstempo nicht halten können. Großbritanniens Austritt wird für die Briten überwiegend negative Folgen haben, was den Willen zur Kooperation in der Eurozone eher stärken wird.—-Zusammenstellung: dm