IM INTERVIEW: COLIN ELLIS

"Das Expansionstempo wird geringer werden"

Ökonom der Ratingagentur Moody's sieht das Top-Rating Deutschlands auf absehbare Zeit nicht gefährdet - EZB hinkt dem Zyklus weiter hinterher

"Das Expansionstempo wird geringer werden"

Den Handelsstreit zwischen den USA und China will auch Colin Ellis von der Ratingagentur Moody’s nicht kleinreden und macht ihn als einen der Hauptrisiken für die Weltwirtschaft aus. Aber auch ohne größere Risiken müssen sich Investoren und Unternehmen auf ein geringeres Expansionstempo einstellen.- Herr Ellis, wenn Sie sich die Weltwirtschaften aus heutigem Stand anschauen. Was beunruhigt Sie am meisten?Mit Blick auf die globalen makroökonomischen Aussichten heben wir folgende Entwicklungen als Hauptrisiken hervor: eine zusehends knappe Liquiditätsausstattung weltweit und sich verschärfende wirtschaftliche Auseinandersetzungen, insbesondere zwischen China und den USA. Allgemeiner gesehen kann das Weltwirtschaftswachstum wahrscheinlich nicht viel kräftiger ausfallen. Selbst wenn sich, sagen wir, im nächsten Jahr keine größeren Risiken ergeben, sollten sich Investoren und Unternehmen auf ein geringeres Expansionstempo einstellen.- Und wenn sich das Marktumfeld weiter verschlechtert, wird alles noch viel schlimmer?Es gibt klare Finanzrisiken, die uns Sorge bereiten. Im privaten Sektor ist die Verschuldung in vielen Ländern heute höher als vor der Finanzkrise. Gemessen an historischen Standards sind die Anleiherenditen niedrig eingestufter Emittenten zwar gering, könnten sich aber deutlich ausweiten, sollte sich das Marktumfeld verschlechtern. Grundsätzlich haben auch viele entwickelte Volkswirtschaften noch immer mit den Folgen der jüngsten Finanzkrise zu kämpfen. So ist die Arbeitslosigkeit in Spanien, Griechenland und Portugal immer noch deutlich höher als 2006, und die Staatsverschuldung in Prozent des BIP ist in den meisten europäischen Ländern ebenfalls höher als damals.- Unternehmen die Notenbanken und die Politik genug dagegen?Die Fed hat ihre geldpolitischen Zügel zuletzt angezogen, die EZB hinkt dem Zyklus jedoch noch weiter hinterher, und strukturelle sowie institutionelle Reformen, die sowohl einzelne Euro-Länder als auch die Region insgesamt kräftigen könnten, sind zum Erliegen gekommen.- In Zeiten wirtschaftlichen Wachstums pumpte die EZB billiges Geld in den Markt. Ist die EZB überhaupt in der Lage, auf eine künftige Krise angemessen zu reagieren?Die EZB verfügt über Machtbefugnisse und neue Instrumente, die sie 2007 noch nicht hatte, etwa hinsichtlich ihrer Rolle im Rahmen des “Einheitlichen Bankenaufsichtsmechanismus” (SSM) sowie längerfristiger und zielgerichteter Refinanzierungsoperationen und quantitativer Lockerung (QE). Es gibt allerdings Anzeichen, dass QE abnehmende Erträge hat. Außerdem ist die EZB institutionell und politisch auf eine Art und Weise eingeschränkt, wie es die Fed und die BoE nicht sind. Bei einer künftigen Krise könnte der nächste EZB-Präsident also bereit sein, alles zu tun, “was nötig ist”, aber die EZB dennoch nicht in der Lage sein, alle politischen Risiken, die sich vielleicht ergeben, zu vermeiden.- Stellen die andauernden Handelskonflikte eine tatsächliche Bedrohung für einzelne Staaten dar? Drohen gar Abstufungen der Kreditwürdigkeit?Die anhaltenden Handelsspannungen sind eine reale Gefahr für die globalen Wachstumsaussichten. Kleinere Länder, die nicht direkt in die Streitigkeiten verwickelt sind, könnten die Folgen jedoch stärker zu spüren bekommen. Sowohl die USA als auch China sind große, diversifizierte Volkswirtschaften mit bedeutenden bonitätsrelevanten Stärken. Wenn sie sich jedoch gegenseitig Zölle auferlegen, dann beeinträchtigt dies die Handelsströme zu einer Vielzahl anderer Länder, die unter Umständen nur relativ kleine Anbieter in der amerikanischen oder chinesischen Lieferkette sind. Insofern könnten einige kleinere Volkswirtschaften stärker unter einem länger anhaltenden Handelskrieg leiden als die Hauptakteure.- Blicken wir auf die Türkei. Halten Sie es für vorstellbar, dass die Schwierigkeiten der türkischen Wirtschaft auch Folgen für Staaten der Eurozone haben könnte? Sollten die Länder der Eurozone der Türkei nicht schon aus Eigeninteresse zur Hilfe eilen?Ich denke, zwischen der Türkei und den Euro-Ländern bestehen nur relativ lose direkte Verflechtungen. Ich bin nicht übermäßig besorgt, dass entstehende Verluste in der Türkei eine Bedrohung für das europäische Finanzsystem darstellen.- Was muss die Türkei tun, um aus der Krise zu kommen?Das Wichtigste, was die Türkei tun kann, ist, das Vertrauen der Investoren zurückzugewinnen. Der Großteil der finanziellen Turbulenzen dieses Jahres ist Ausdruck der zunehmenden Sorge der internationalen Investoren über die mittelfristigen Aussichten für das Wachstum und die wirtschaftliche Stabilität der Türkei, wie es am Wechselkurs und anderen Finanzkursen abzulesen ist. Die politische Auseinandersetzung mit den USA war hier nicht hilfreich; wenn die Türkei aber den Investoren die Sicherheit zurückgeben kann, dass sie über ein glaubwürdiges mittelfristiges Konzept verfügt, um das Außendefizit zu senken und das Wachstum auf breiter Front zu fördern, dann sollte dies dazu beitragen, die Situation zu stabilisieren. Es ist auch wichtig, dass die Investoren Vertrauen in die Unabhängigkeit der Zentralbank und anderer Institutionen bei der Ausübung ihrer jeweiligen Mandate haben.- Moody’s prüft eine Abstufung der Kreditwürdigkeit Italiens, die Prüfphase wurde unlängst verlängert. Welche Fakten fehlen Ihnen noch, um sich ein Bild zu bilden?Im Mai haben wir das “Baa2”-Rating Italiens unter negativen Vorzeichen auf die Beobachtungsliste gesetzt. Hintergrund waren Sorgen über die Finanzkraft Italiens und die Aussicht, dass strukturelle wirtschaftliche Reformen zum Erliegen kommen könnten, beziehungsweise, dass frühere Reformen rückgängig gemacht werden. Im August haben wir die Überprüfung verlängert, um uns größere Klarheit über den Weg zu verschaffen, den die italienische Regierung bei ihrer Finanzpolitik und ihrer politischen Agenda insgesamt verfolgt. Das italienische Finanzministerium plant, dem Parlament noch diese Woche seine aktuelle Wirtschaftsprognose und seine finanzpolitischen Pläne vorzulegen. Von daher hoffen wir, die Überprüfung bis Ende Oktober abschließen zu können.- Wäre eine Abstufung Italiens gerechtfertigt, nur wenn das Land die Maastricht-Kriterien für das Haushaltsdefizit verletzt? Wie hoch ist die Hürde für eine Abstufung?Es gibt keinen magischen Wert für das Verhältnis von Schulden zu BIP, bei dem automatisch eine positive oder negative Ratingänderung ausgelöst wird. Unser Ratingansatz für Staaten berücksichtigt eine Vielzahl von Faktoren, einschließlich finanzpolitischer Kennzahlen. In den letzten Jahren haben wir aber klargemacht, dass eine der Bedingungen dafür, dass Italien sein Rating halten kann, ist, dass das ohnehin schon hohe Verhältnis von Schulden zu BIP mittelfristig eine eindeutig rückläufige Tendenz aufweist. Sollten wir feststellen, dass dies nicht der Fall ist, dann wird dies Abwärtsdruck auf das Rating ausüben.- Sie haben kürzlich vor einem gestiegenen Risiko eines ungeordneten Brexits gewarnt. Wird das nur einzelne Unternehmen oder ganze Staaten betreffen?Ein ungeregelter Brexit hätte deutlich negative Auswirkungen auf eine Vielzahl von Emittenten, einschließlich des Vereinigten Königreichs. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass auch das britische Länderrating herabgestuft werden würde. Angesichts der Flexibilität der britischen Volkswirtschaft würde ein ungeordneter Brexit nicht automatisch bedeuten, dass das Kreditprofil Großbritanniens irreparabel geschwächt würde. Im Falle eines ungeregelten Brexit müssten wir die längerfristigen Folgen für das Kreditprofil Großbritanniens und die Frage, wie eine potenzielle Schwächung der Bonität am besten anzuzeigen wäre, sorgfältig untersuchen. Gleichzeitig müssten wir uns ausreichend Zeit nehmen, um die Reaktionen der politischen Entscheidungsträger in Großbritannien zu bewerten.- Sehen Sie noch mehr europäische Länder, die verletzlich sind?Einzelne europäische Länder stehen vor besonderen Herausforderungen: In Spanien, ich hatte es schon erwähnt, ist die Arbeitslosigkeit nach wie vor hoch, während die politischen Entwicklungen in mehreren Ländern eine weniger konsensbasierte Politik fördern dürften. Die meisten unserer Länderratings weisen aktuell jedoch einen stabilen Ausblick auf. Ein Thema, das häufig aufkommt, wenn ich mit Investoren spreche, dreht sich um die Aussichten für eine stärkere Integration und weiterreichende Reformen im Euroraum angesichts der nach wie vor instabilen Verfassung der Währungsunion. Die aktuelle Gesamtsituation mag für die Umsetzung von Reformen, wie Obergrenzen für Länderengagements von Banken, ein einheitliches Einlagensicherungssystem für Europa, eine Kapitalmarktunion und einen klareren Mechanismus für die Restrukturierung von Staatsschulden, optimal erscheinen, aber rasche Fortschritte erscheinen hier unwahrscheinlich.- Wie steht es um Frankreich? Gehen die Reformen, insbesondere auch die im Arbeitsmarkt, schnell genug voran?Wir haben aktuell einen positiven Ausblick für das “Aa2”-Länderrating Frankreichs. Hierin äußern sich die potenziell positiven Effekte aus den Reformen zur Bekämpfung der bekannten Starrheit und Unzulänglichkeiten im Fertigungssektor und auf dem Arbeitsmarkt. Von daher dauert es eine Weile, bis sich wirtschaftliche und strukturelle Reformen im BIP niederschlagen. Zudem glaube ich, dass die positiven wirtschaftlichen Effekte von Reformen häufig überschätzt werden. In Frankreich würde ich davon ausgehen, dass sich die positiven Effekte von Reformen am raschesten auf dem Arbeitsmarkt zeigen, und zwar eher an deutlich geringerer Arbeitslosigkeit, sofern die Reformen erfolgreich umgesetzt werden, als an einem deutlichen Anstieg des Wirtschaftswachstums in den nächsten zwölf Monaten.- Bislang gibt es in Europa ein Nord-Süd-Gefälle. Können Sie sich vorstellen, dass sich die Gewichte verschieben?Die meisten unserer Ratingausblicke in Europa sind stabil. Insofern sehen wir nicht, dass sich die relativen Kreditprofile vieler Länder in den nächsten zwölf bis 18 Monaten verändern. Die jüngste politische Dynamik lässt darauf schließen, dass unter den Mitgliedstaaten die Meinungen über die Zukunft der Europäischen Union weiter auseinandergehen. Bislang haben sich diese Unterschiede allerdings nur in mangelndem Fortschritt bei der weiteren Integration und den Reformbemühungen manifestiert, als in einer weiteren Zersplitterung der Union nach dem Brexit.- Der Spread zur zehnjährigen deutschen Staatsanleihe ist ein Benchmark. Wie könnte Deutschland sein Top-Rating verlieren?Deutschland verfügt über ein “Aaa”-Rating mit stabilem Ausblick. Ich sehe nicht, dass sich hieran in nächster Zeit etwas ändern sollte. Es bedürfte schon einer deutlichen Schwächung der Finanz- oder Wirtschaftskraft oder einer institutionellen Lähmung, um das Rating Deutschlands unter Druck zu setzen. Meines Erachtens – und ich weise darauf hin, dass sämtliche Ratingentscheidungen von einem Komitee getroffen werden – dürfte es hierzu in absehbarer Zeit nicht kommen. Auch wenn es zwischen den verschiedenen politischen Fraktionen Meinungsverschiedenheiten über den politischen Kurs gibt, besteht beachtliche Einigkeit über die Notwendigkeit solider öffentlicher Finanzen.—-Die Fragen stellte Archibald Preuschat.