IM INTERVIEW: CHRISTIAN KELLER

"Das Problem ist die Politökonomie"

Der Barclays-Chefvolkswirt über die Post-Corona-Wirtschaft, die Rolle des Staates und Jeremy Corbyn

"Das Problem ist die Politökonomie"

Während weltweit die Zahl der Neuinfektionen wieder steigt, macht sich Christian Keller Gedanken darüber, wie die Ökonomie nach dem Ende der Pandemie aussehen wird. Eines ist für den Chefökonomen der britischen Großbank Barclays klar: Dem Staat wird auf längere Zeit größere Bedeutung zukommen. Herr Keller, wir stecken zum Beginn der kalten Jahreszeit mittendrin in der Corona-Pandemie. Sie beschäftigen sich trotzdem bereits mit der Post-Covid-Ökonomie. Wie unterscheidet sie sich von der Wirtschaft vor der Krise?Wir werden wahrscheinlich vor allem eine fortschreitende Deglobalisierung sehen. Das ist ein bestehender Trend, der sich noch beschleunigen wird. Wir haben uns bei Barclays aber auch angeschaut, ob es Dinge gibt, die vor der Pandemie stattgefunden haben und die sich in einer Post-Covid-Welt vielleicht nicht in der Form fortsetzen werden. Hier ist vor allem der Aspekt der immer schnelleren und grenzenloseren Mobilität und damit einhergehend auch die ständig fortschreitende Agglomeration zu nennen. Sie erwarten, dass diese Trends gebrochen werden?In den letzten zehn Jahren wurde immer mehr gereist, insbesondere die chinesischen Touristen hatten an dem Wachstum großen Anteil. Und trotz der Tatsache, dass wir immer digitaler arbeiten, sind die Menschen in die Metropolen gedrängt. Selbst die Entwickler aus dem Silicon Valley, die ihre Arbeit im Prinzip online aus einer Holzhütte in den Rocky Mountains machen könnten, wollten bisher mit ihresgleichen im Café in San Francisco sitzen. Das sind Entwicklungen, die sich längerfristig verändern könnten, weil die Vorteile der Agglomeration nach der Erfahrung der Pandemie durch Nachteile aufgehoben werden und wir uns auch auf weniger Reisen einstellen. Glauben Sie nicht, dass wir rasch zur Normalität zurückkehren, sobald ein Impfstoff gefunden ist?Es gibt grundsätzlich eine Tendenz, inmitten einer Krise Dinge zu extrapolieren und mögliche Veränderungen zu überschätzen. Tatsächlich verändern sich die Dinge häufig nicht so deutlich. Am 11. September 2001 habe ich in den USA gelebt. Danach haben alle gesagt, dass die Menschen nie wieder in Hochhäusern leben werden. Es gibt immer Thesen, die klingen plausibel, sind dann aber schnell wieder überholt. Aber natürlich gibt es dauerhafte Veränderungen in bestimmten Bereichen. Wir fliegen heute nicht mehr wie vor 9/11, wenn wir etwa unsere 50-Milliliter-Fläschchen eintüten. Ähnlich wird es nach der Pandemie sein. Was wird sich dauerhaft ändern?Was aus der Zeit der Pandemie bleiben wird, ist der Wunsch, wenn es drauf ankommt, besser und schneller kontrollieren zu können. Das schnelle Hüpfen über die Grenzen wird deshalb schwieriger werden. Ich glaube auch, dass es zu einer Flucht aus den ganz großen Zentren kommt und Teile des öffentlichen Transports mehr gemieden werden. Stichwort Deglobalisierung: Brauchen wir nicht gerade jetzt Wachstum durch mehr Handel?China erlebt einen recht starken Aufschwung und gerade auch die Exporte laufen gut. Gleichzeitig verfestigt sich der Verdacht, dass Peking nicht transparent über die Pandemie informiert hat. Die Erkenntnis, dass China in der Produktion von vielen Teilen, gerade im IT-Bereich, eine monopolartige Stellung hat, führt zu Bestrebungen nach Reshoring, also der Rückverlagerung, und Diversifikation von Wertschöpfungsketten. Dieser Trend wird weitergehen. Sie rechnen in einer Post-Covid-Welt mit höherer makroökonomischer Volatilität und einer De-Synchronisierung des globalen Wirtschaftszyklus. Was bedeutet das?Im Grunde genommen ist das direkt abgeleitet aus der Annahme, dass wir weniger Globalisierung haben werden. Die Effizienzgewinne, die wir in der Vergangenheit hatten, gründeten darauf, dass man sich auf den billigsten Standort konzentriert hat und auch der Transport billig war, was sich wegen Klimasteuern ebenfalls gerade ändert. Wenn man das rückgängig macht, muss man davon ausgehen, dass man zurückgeht in eine Welt mit höheren Kosten. Und weniger Wachstum?Nicht unbedingt, denn Wachstum hängt auch von steigender Produktivität durch technologischen Fortschritt ab. Nach einer langen Phase sehr niedrigen Produktivitätswachstums könnten wir hier in den nächsten Jahren auch positiv überrascht werden. Im Allgemeinen sind die Konsequenzen von technologischem Fortschritt und Globalisierung oft schwierig zu unterscheiden. Bei vielen Dingen, die wir beobachten, sagen wir häufig: Das ist die Globalisierung. Aber wenn man sich zum Beispiel den Verlust von Arbeitsplätzen im mittleren Westen der USA anschaut, dann hat die Automatisierungswelle gerade für mittlere und gering qualifizierte Einkommen oft eine größere Rolle gespielt als die Globalisierung und damit der Wettbewerb aus China. Kehren Arbeitsplätze jetzt zurück in den Westen?Zum Teil mag es dazu kommen. Doch selbst wenn Teile der Produktion wieder zurückverlagert würden, würden die Firmen im Westen sehr wohl stark in Technologie investieren und so Arbeit durch Kapital ersetzen. Ein Rückgang der Globalisierung muss also nicht unbedingt dazu führen, dass auf den Arbeitsmärkten der Industrieländer dann wieder wesentlich größere Lohnerhöhungen durchgesetzt werden könnten. Wie hat sich die Rolle des Staates in der Pandemie verändert?Der Staat musste handeln und erst einmal richtig tief in die Taschen greifen. Das ist unabhängig davon geschehen, ob man vorher Fiskalüberschüsse hatte wie zum Beispiel Deutschland oder wie die USA schon vorher große Defizite ausgewiesen hat. Teil der staatlichen Hilfspakete sind große Einkommenstransfers. Diese sind zunächst zeitlich auf die Krise begrenzt, aber die Pandemie wird sicherlich auch mit dazu benutzt werden, bestehenden Forderungen nach größerer staatlicher Umverteilung zum Beispiel durch ein Grundeinkommen Nachdruck zu verleihen. Das Comeback des Staates wird nach Corona also weitergehen?Die Pandemie beflügelt die Leute, die schon vorher gesagt haben, wir brauchen einen größeren Staat. Einen Staat, der umverteilt und in die Prozesse eingreift. Wir haben jetzt eine höhere Staatsquote und das wird auch eine Weile so bleiben. Zu den Interventionen des Staates gab es keine Alternative, oder?Die schnellen und großzügigen fiskalischen Hilfen inmitten der Krise und die parallelen geldpolitischen Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) waren gerechtfertigt. Es macht auch Sinn jetzt mit höheren öffentlichen Investitionen den Aufschwung zu unterstützen, selbst wenn man nicht jede einzelne Initiative unterschreibt. Aber in vielen Bereichen sollten die sehr teuren Staatsinterventionen eine Ausnahmesituation bleiben und man muss darüber nachdenken, wie man aus diesem Modus wieder rauskommt. Trotz Negativzinsen?Wir haben derzeit einen sehr niedrigen Gleichgewichtszins und darauf muss die EZB reagieren. Nur wird eine Situation, in der der Zins noch niedriger ist als das ohnehin niedrige Wachstum, nicht ewig anhalten. Wenn Zinsen wieder steigen, werden die derzeit noch einmal ansteigenden Schuldenquoten schwerer zu bedienen sein. Das bedeutet, dass man in der Zeit, in der das Geld gedruckt wird, Investitionen fördert, die Wachstum bringen. Und wenn das Wachstum und der höhere Zins dann da sind, müssen wir auch bereit sein, die fiskalische Expansion wieder zurückzudrehen. Das überlässt man am liebsten der nächsten Regierung, richtig?Ich glaube, das größte Problem ist in der Tat die Politökonomie. Denn die Ökonomen, die sagen, dass man höhere Schuldenstände bewerkstelligen kann, schreiben alle in einem Nebensatz, dass man im Aufschwung die Ausgaben wieder zurückfahren muss. Das wird aber kein Politiker gerne hören. Die denken jetzt, dass die Ökonomen unrecht hatten, als sie sagten, dass man nicht Geld drucken und ausgeben kann, ohne dass das irgendwann Probleme macht. Da entsteht möglicherweise eine Dynamik, die zu immer neuen Forderungen führen kann. Zum Beispiel in Extremsituationen könnte eine Zentralbank tatsächlich erwägen Helikoptergeld abzuwerfen, aber sie muss dabei auch realistisch einschätzen, ob sie der damit in Gang gesetzten politischen Dynamik dann wirklich noch standhalten kann. Was halten Sie denn von der aufkommenden Systemkritik, gerade mit Blick auf den Kapitalismus?Wortmeldungen wie die, dass Covid-19 das Ende des Kapitalismus bedeutet, werfen viele verschiedene Dinge in einen Topf. Die durch die Pandemie ausgelöste Krise dient häufig dazu, bestehende Kritik – und häufig auch damit verbundene Klischees – über das bestehende Wirtschaftssystem loszuwerden. Man kann natürlich fragen: Warum waren wir nicht besser vorbereitet? Aber das hat nicht prinzipiell mit dem Kapitalismus als System zu tun. Was als Problem des Kapitalismus beschrieben wird, ist oft eher die Folge von fehlenden marktwirtschaftlichen Wettbewerbsstrukturen. Haben Sie ein Beispiel dafür?Ein Beispiel ist, was im digitalen Markt passiert. Dort beobachten wir fortschreitende Konzentration mit Firmen wie Amazon und Google, die teilweise marktbeherrschende Stellungen haben. Gestützt auf die frühe Monopoltheorie hätte man erwartet, dass sie jetzt die Preise für ihre Nutzer erhöhen und Monopolrenten abschöpfen. Aber die Preise bleiben niedrig und werden sogar noch gesenkt, um die Konkurrenz auszubooten. Denn die Konzerne verfügen mittlerweile über ein Monopson in dem Sinn, dass sie die Einkaufspreise drücken können. Jetzt kann man sagen, das ist das Ende des Kapitalismus. Man kann aber auch sagen, das ist ein Versagen der Regulierung, weil sie nicht auf die Herausforderung der Digitalisierung reagiert hat. Bevor man einen stärkeren Staat fordert, der etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen zahlen soll, sollte man die Frage stellen, ob der Staat nicht auch durch bessere Regulierung auf die wachsende Marktmacht in der digitalen Wirtschaft reagieren kann. Da braucht man vielleicht einen aktiveren Staat in manchen Bereichen, aber nicht unbedingt einen stärkeren Staat oder ein anderes Wirtschaftssystem. Aber die allgemeine Gemengelage der Coronakrise gibt vielen die Gelegenheit, die üblichen Kapitalismuskritiken wieder aufzufrischen. Wen haben Sie da im Sinn?Jeremy Corbyn ist ein wunderbares Beispiel. Verliert die Wahl in Großbritannien und sagt jetzt, dass er mit seinen Politikvorschlägen zu höheren Staatsdefiziten und großen Transferleistungen vollkommen recht hatte. Er lässt aber aus, dass er diese noch vor der Pandemie gemacht hat. Das ist, glaube ich, im Moment auch die Situation in vielen anderen europäischen Demokratien. Und in den USA? Wie wichtig ist der Ausgang der Wahl im November für die Post-Corona-Welt?Natürlich wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Letztlich kann auch Joe Biden in der Wirtschaftspolitik nicht so einfach umsteuern, wenn die Demokraten nicht gleichzeitig den Senat und das Repräsentantenhaus beherrschen. Aber ein so starkes Auseinandergehen von Meinungen und eine so starke Radikalisierung habe ich seit Jahrzehnten nicht erlebt. Ich würde daher schon sagen, dass es hier um entscheidende Unterschiede geht und eine der wichtigsten US-Wahlen seit langer Zeit bevorsteht. Das Interview führte Stefan Paravicini.