John Greenwood

„Das wäre ein gravierender Fehler!“

Der City-Veteran John Greenwood hofft, dass die Bank of England ihren Leitzins nicht unter die Nulllinie drücken wird. Er sieht dafür angesichts des Geldmengenwachstums keine Notwenigkeit und rechnet mit einem kräftigen Aufschwung, sobald die Pandemie überwunden ist. Ein unabhängiges Schottland wäre ohne die jährlichen Zuschüsse aus London zu harten Anpassungsmaßnahmen gezwungen.

„Das wäre ein gravierender Fehler!“

Andreas Hippin.

Herr Greenwood, haben wir jetzt einen Brexit oder einen Brino: Brexit in name only?

Es ist noch viel zu früh, um diese Frage zu beantworten. Wichtig ist zu verstehen, worin die wesentlichen Vorteile des Brexit bestehen: nämlich in billigeren Importen, einer intelligenteren Regulierung und einer Regierung, die besser auf die Anliegen ihrer Bürger eingehen kann, und nicht in der veränderten Beziehung zur EU. Diese Vorteile werden aber erst im Laufe der nächsten zehn oder mehr Jahre zum Tragen kommen und nicht sofort.

Wurde Nordirland dafür de facto an die EU abgetreten?

Nein. Nordirland bleibt ein souveräner Teil des Vereinigten Königreichs. Dass Nordirland für wirtschaftliche Zwecke weiterhin dem Regelwerk des EU-Binnenmarktes unterliegen wird, ist auf den Protektionismus der EU und die beidseitige Ablehnung von „Grenzposten“ an der inneririschen Grenze zurückzuführen. Die EU könnte es nicht ertragen, eine Landgrenze zu irgendeinem Teil des Vereinigten Königreichs zu haben.

Wie wichtig ist Nordirland für die britische Wirtschaft?

Nordirland ist ein relativ kleiner Teil des Vereinigten Königreichs und trägt gerade einmal 2% bis 3% zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. Aber Bedeutung ist nicht gleich Größe. Aus historischen und religiösen Gründen haben die Menschen in Nordirland wiederholt dafür gestimmt, im Vereinigten Königreich zu bleiben und nicht Teil der Republik Irland zu werden.

Wie relevant sind die aktuellen Grenzprobleme, und werden sie fortbestehen?

Angesichts des enormen Unterschieds in der Größe ihrer Volkswirtschaften sind die aktuellen Grenzfragen für Nordirland viel wichtiger als für den Rest des Vereinigten Königreichs.

Wird das kleinkarierte Gezänk zwischen London und Brüssel auf ewig so weitergehen?

Unter Nachbarn, die unterschiedliche Wertvorstellungen haben, wird das wohl leider auch in Zukunft zum Alltag gehören.

Wie wichtig ist Schottland für die britische Wirtschaft?

Die schottische Wirtschaft trägt rund 7,5% zum britischen BIP bei. Aber wie gesagt: Die Bedeutung hängt nicht nur von der Größe ab. Seit England Schottland Anfang des 18. Jahrhunderts nach dem katastrophalen Scheitern des Darién-Projekts – damals sollte im heutigen Panama an einer Landenge eine schottische Kolonie errichtet werden – vor dem Staatsbankrott rettete und dem Act of Union im Jahr 1707 haben beide Länder sehr stark von der Union profitiert, in militärischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht sowie in vielen anderen Bereichen.

Wie wichtig ist die Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich für Schottland in wirtschaftlicher Hinsicht?

Jährliche Schätzungen zeigen, dass sich Schottland größere Haushalts- und Leistungsbilanzdefizite leistet als der Rest des Vereinigten Königreichs. Theoretisch kann jede Region einen Alleingang wagen, aber in den ersten Jahren der Unabhängigkeit bräuchte es dafür eine hohe Haushalts- und Finanzdisziplin. Die amtierende schottische Regierung favorisiert jedoch hohe Steuern, Sozial- und Staatsausgaben. Ohne die jährlichen Zuschüsse aus London käme Schottland um einige harte Anpassungen nicht herum.

Was ist mit „Global Britain“ passiert?

Kein Land kann seine Struktur von einem Tag auf den anderen ändern. Andere Länder, die vom Protektionismus zu einem freieren Handel übergegangen sind – wie zum Beispiel Neuseeland in den 1980er Jahren oder Australien und Israel in den 1990ern –, brauchten zehn Jahre, um neue Bereiche zu finden, in denen sie über komparative Vorteile verfügen. Aber Sie werden Global Britain beim G7-Treffen in Cornwall im Juni und bei der UN-Klimakonferenz in Glasgow im November erleben, die beide unter dem Vorsitz der britischen Regierung stehen werden.

Wie kann man eine offene Gesellschaft sein, wenn die Grenzen geschlossen bleiben, um zu verhindern, dass neue Virusmutationen ins Land gelangen?

Kein Land kann seinen Bürgern erlauben, ein normales Leben zu führen, solange eine Pandemie wütet. Bevor Großbritannien – oder Deutschland oder die EU – zur Normalität zurückkehren können, muss erst einmal die Gesundheitskrise gelöst sein. Die grundlegenden Werte einer Nation verändern sich nicht aufgrund eines nationalen Gesundheitsnotstands.

Ist eine zweite Rezession, ein sogenannter Double Dip, jetzt mehr oder weniger garantiert?

Wie es mit der Wirtschaft auf kurze Sicht weitergeht, hängt von der Infektionsentwicklung und den Lockdowns zur Eindämmung der Corona-Pandemie ab. Angesichts der starken Abhängigkeit der britischen Wirtschaft vom Dienstleistungssektor erscheinen ein oder zwei weitere Quartale negativen Wachstums unvermeidbar, im vierten Quartal 2020 und möglicherweise im ersten Quartal 2021. Die Erholung wird aber von den Fortschritten der laufenden Impfkampagnen abhängen, ein Bereich, in dem sich das Vereinigte Königreich hervorgetan hat.

Wird Großbritannien die Coronakrise schneller überwinden als die EU?

Angesichts des Ausmaßes der Interaktionen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU – vom Handel über Bildung und Forschung bis hin zu Urlaubsreisen, Sport, kulturellen Veranstaltungen und Unterhaltung – ist schwer vorstellbar, dass sich eine Region vollständig erholen kann, solange sich die andere noch im Lockdown befindet. Internationale Verflechtungen und Wechselwirkungen prägen den modernen Lebensalltag. Daher dürften sich Großbritannien und die EU ungefähr gleichzeitig erholen.

Wird die Bank of England ihren Zinssatz unter null drücken?

Das hoffe ich nicht! Das wäre ein gravierender Fehler. Die Negativzinsen in der Eurozone (und in Japan) sind auf die Fehlkonstruktion der Anleihenkaufprogramme der EZB (und der Bank of Japan) zurückzuführen – die Tatsache, dass beide Wertpapiere von Banken und nicht von Institutionen außerhalb des Bankensektors angekauft haben. Dadurch haben diese Programme das Wachstum der breiten Geldmenge (M3) nicht ausreichend angekurbelt und beide Regionen fast in die Deflation geführt.

Die Geldmenge in der Eurozone wächst seit Monaten mit zweistelligen Raten und inzwischen so schnell wie seit Jahren nicht.

Die EZB und die BoJ haben die Konstruktionsfehler zwar nicht beseitigt, vor kurzem aber die Ausgestaltung ihrer Kreditprogramme angepasst, zum Beispiel mittels spezieller Refinanzierungsgeschäfte (TLTRO) – und sich dabei am „Funding for Lending“-Programm der Bank of England orientiert. In der Folge hat sich die Lage im Euroraum und in Japan verbessert. In der Eurozone hat das M3-Wachstum inzwischen eine Jahresrate von 10% bis 11% erreicht, und in Japan liegt das M2-Wachstum bei 9% bis 10%. In Großbritannien wächst die Geldmenge M4x mit einer Jahresrate von 13% bis 14%, was zu einem kräftigen Aufschwung führen sollte, wenn die Pandemie erst einmal überwunden ist. Damit wird also gar keine Notwendigkeit für Minuszinsen bestehen.

Was könnte ein Grund für Negativzinsen sein?

Einen guten Grund für negative Zinsen gibt es nicht. Für den Finanzsektor wäre das eine Katastrophe – wie man an den schwindenden Nettozinsmargen kleinerer Banken und anderer Finanzinstitute in Deutschland und Japan sieht. Größere Banken können auf der Basis von zinsunabhängigen Erträgen überleben, kleinere jedoch nicht. Ganz allgemein geht es bei der Geldpolitik im Übrigen gar nicht um Zinsen, sondern um das Wachstum der breiten Geldmenge. Bis die geldpolitischen Entscheider diesen ökonomischen Grundsatz verinnerlicht haben, werden die Sparer in der Eurozone weiter von ihnen bestraft.

Das Interview führte