IM INTERVIEW: GERTRUD R. TRAUD

"Deflationsphobie der EZB"

Die Chefvolkswirtin der Helaba warnt vor zunehmendem Misstrauen in den Kapitalismus wegen Negativzinsen und Bargelddebatte

"Deflationsphobie der EZB"

Die deutsche Wirtschaft wächst, auf dem Arbeitsmarkt sieht es blendend aus, dennoch macht sich Unzufriedenheit über die Wirtschaftsordnung breit. Was sind die Gründe für den Stimmungswandel? Fragen an die Chefvolkswirtin der Helaba Gertrud R. Traud.- Frau Traud, in Deutschland geht die Angst vor dem Abgehängtwerden um: von einer neuen Rentnerarmut ist die Rede, die Gewerkschaften thematisieren die aufgehende Schere zwischen Reich und Arm, und auch die Wissenschaft hat das Thema soziale Ungleichheit in den Blick genommen. Was passiert da?Das gesellschaftliche Klima hat sich gewandelt. Hatten sich die Menschen lange Zeit darauf verlassen, dass das Wirtschaftswachstum alle Boote hebt, Geringverdiener und Normalverdiener ebenso wie einkommensstarke Gruppen mehr Wohlstand erhalten, kommt es bei geringeren Wachstumsraten und neuen ökonomischen sowie politischen Herausforderungen nun vermehrt zu Verteilungskämpfen, wie wir das früher schon einmal hatten.- Wo zeigt sich das?Im Fokus steht derzeit das Thema Flüchtlinge, das zweifelsohne erhebliche Kosten mit sich bringt. Viele Bürger sorgen sich daher, zu kurz zu kommen beziehungsweise dafür stärker zur Kasse gebeten zu werden. Seit geraumer Zeit greift zudem die Sorge um die Zukunft Europas um sich. Letztendlich geht es auch hier um Verteilungsfragen. Alte ideologische Konflikte zwischen Kapital und Arbeit brechen wieder auf, nationalstaatliches Denken droht den europäischen Gedanken zu verdrängen. Das ist für eine so offene Volkswirtschaft wie die deutsche eine gefährliche Entwicklung. Der Verlauf der Debatte über die transatlantische Freihandelszone (TTIP) führt dies exemplarisch vor Augen. Auch die möglichen Auswirkungen der Digitalisierung verunsichern weite Teile der Arbeitnehmerschaft. Über viele Jahre sicher geglaubte Jobs könnten in der Zukunft verschwinden.- Wohin führt das politisch gesehen? Geht das bis hin zur Systemfrage, weil das Vertrauen in unser Wirtschaftssystem erschüttert worden ist?Es kommt in der Tat allerlei zusammen: die in vielen Augen exzessive Managerentlohnung, das Verhalten der Manager in Krisen, das Misstrauen in die Bankenwelt seit der Finanzkrise und die Einführung negativer Zinsen durch die Europäische Zentralbank sowie die Angst vor der Abschaffung des Bargeldes. Ursächlich für die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist meines Erachtens aber vornehmlich die laufend geführte Diskussion über die Schwäche des Wachstums. Die Menschen fühlen sich permanent in einer Rezession.- Was durch die Wachstumsdaten aber nicht gedeckt ist.In der Tat. Richtig ist zwar, dass die Wirtschaft nicht mehr so stark wächst wie in den Jahren vor der Finanzkrise. Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland in den letzten Jahren aber kontinuierlich gefallen. Die Zahl der Beschäftigten erreicht historische Höchststände. Selbst in den europäischen Krisenländern ist die Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren gesunken. Die USA befinden sich nahe der Vollbeschäftigung. Offensichtlich ist die Beschäftigungsschwelle – die Wachstumsrate, ab der Stellen aufgebaut werden – inzwischen niedriger. Die Abflachung des Wachstumspfads erschwert zwar das wirtschaftspolitische Agieren, wie man es bislang kannte, stellt jedoch das System als Ganzes an sich nicht in Frage.- Gleichwohl wird die Systemfrage wieder immer häufiger gestellt. Welche Entwicklung steckt dahinter?Schauen Sie nur auf die Skizze (siehe Grafik). Sowohl vor als auch nach der Krise sind zyklische Schwankungen zu beobachten. Allerdings sind diese jetzt deutlich geringer ausgeprägt. Man spricht dabei von Wellblechkonjunktur. Die eigentliche Herausforderung für die Wirtschaftspolitik ist aber die Abflachung des Wachstumspfads. Es gibt nicht mehr so viel zu verteilen wie früher. Und das macht den Menschen Angst, lässt sie auch daran zweifeln, ob der Kapitalismus tatsächlich das richtige Wirtschaftsmodell für ihre Gesellschaft ist. Dabei war das durch Schulden aufgeblähte Wachstum vor der Finanzkrise die viel größere Gefahr. Wenn die Politik jetzt nicht wieder der Versuchung erliegt, mit weiteren Schulden neue Blasen zu verursachen, birgt der flachere Wachstumspfad sogar die Chance auf eine höhere Stabilität des Systems.- Warum ist das Wachstum so abgeflacht?Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen, die je nach Land unterschiedlich sind: Ein wesentlicher Faktor ist die demografische Entwicklung. In den meisten Industrieländern wächst die Bevölkerungszahl kaum noch beziehungsweise schrumpft sogar. Hinzu kommt der rückläufige Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter. Der Produktionsfaktor Arbeit begrenzt somit das Wachstumspotenzial. Ein weiterer Aspekt hängt unmittelbar mit der Finanzkrise zusammen. Das Wachstum vor 2008 wurde durch eine exzessive Verschuldung befeuert. In der Folge gerieten viele Banken in eine Schieflage. Die Bereinigung im Finanzsektor geht mit einer verhaltenen Kreditvergabe einher. Dies wird forciert durch eine stärkere Regulierung, allerdings nicht nur im Bankensektor. Insgesamt schwingt das Pendel hin zu mehr Eingriffen in den Markt. Hier sind zum Beispiel die Mietpreisbremse oder der Mindestlohn zu nennen.- Dabei kam Deutschland aus der Krise sogar eher glimpflich heraus.In vielen Ländern außerhalb Deutschlands war der Boom bis 2008 zudem begleitet von Blasen in weiteren Sektoren, besonders im Immobiliensektor. Überkapazitäten sind weltweit aber auch beispielsweise im Stahlsektor vorhanden. Das hohe Wachstum vor der Krise wurde nicht nur durch eine zu starke Verschuldung im privaten, sondern auch im öffentlichen Sektor erkauft. Die Schuldenstände weltweit sind kaum abgebaut worden, so dass der Spielraum für weitere expansive Maßnahmen gering ist.- Hat nicht auch die beklagte wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft Auswirkungen auf das Wachstum?Eine zu große Ungleichheit der Vermögen kann ebenfalls den Wachstumspfad abflachen. Die Wirkungskanäle diesbezüglich sind jedoch nicht ganz eindeutig. Je wohlhabender jemand ist, desto geringer ist zwar seine Konsumquote. Unklar ist allerdings, inwieweit sich dies auf die Investitionstätigkeit auswirkt.- Wie muss nun die Politik darauf reagieren?Der niedrigere Wachstumspfad beeinträchtigt den Spielraum der Wirtschaftspolitik. Geringere Zuwachsraten reduzieren die Verteilungsmasse. Dazu kommt ein psychologisches Phänomen: der mentale Anker. In vielen Köpfen ist die Zeit des Booms, also kurz vor der Finanzkrise, als “normal” abgespeichert. Allerdings war dies eine absolute Ausnahmesituation und eine wesentliche Ursache für die tiefe Rezession. Das Gefühl von “Party um halb zwei” kann eben nicht von Dauer sein, auch wenn sich das viele so sehr wünschen. Danach kommt zumeist der Kater. Es bedarf also mehr Ehrlichkeit hinsichtlich dessen, was normal und nachhaltig ist.- Und welches Eingeständnis müssen sich Politik und Ökonomie im Zuge von “mehr Ehrlichkeit” machen?Hoch entwickelte Volkswirtschaften können nicht mehr die gleichen Wachstumsraten haben wie Entwicklungsländer. Dies erfährt gerade China. Die Abflachung des Wachstumspfads im Reich der Mitte wird vielerorts als Bedrohung für die Weltwirtschaft empfunden. Dabei wird übersehen, dass dieses Land aufgrund seines höheren Gewichts inzwischen nur noch halb so stark wachsen muss wie vor zehn Jahren, um den gleichen Impuls für die Weltwirtschaft zu liefern.- Viele Ökonomen nehmen China inzwischen als Risiko für die Weltwirtschaft wahr. Warum?Auch die Chinesen verzeichnen einen hohen Anstieg der Verschuldung. Insbesondere bei den nichtfinanziellen Unternehmen. Damit die Blase nicht platzt, versucht die Regierung auf einen niedrigeren, nachhaltigen Wachstumspfad einzuschwenken. Die starke Ausrichtung auf den industriellen Sektor soll zugunsten von Dienstleistungen reduziert werden. Dabei werden mittlerweile auch Umweltaspekte nicht mehr völlig ausgeblendet.- Was heißt das für uns?Die Veränderungen in China haben Auswirkungen auf unseren Warenhandel. Manche Exportprodukte könnten ganz wegfallen und bei deutschen Unternehmen mit Absatz- und Arbeitsplatzverlusten einhergehen. Wirtschaftspolitische Maßnahmen, die darauf abzielen, die alten Strukturen zu konservieren, sind über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt. Für den Strukturwandel gibt es keine einfachen Lösungen. Gerade wenn sich Menschen bedroht fühlen, sind sie aber anfällig für einfache Parolen. Dabei handelt es sich zumeist nicht um wirkliche Alternativen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern sowie im US-amerikanischen Wahlkampf haben deshalb Populisten derzeit Hochkonjunktur. Dabei gäbe es schon Möglichkeiten, das Wachstum zu stimulieren.- Woran denken Sie da?Da fällt mir sofort TTIP ein. Eine Nation wie Deutschland, die aufgrund ihrer engen internationalen Verflechtung von freiem Handel überdurchschnittlich profitiert, scheint sich allerdings – zumindest geistig – mehr und mehr abzuschotten. Die USA sind mittlerweile unser wichtigster Absatzmarkt – entsprechend bedeutend wäre ein erfolgreicher Abschluss von TTIP. Ein Anstieg der Exporte in die USA um 5 % würde in Euro gerechnet fast so viel ausmachen wie ein komplett neuer Markt in der Größenordnung Irlands.- Die anderen Länder der Eurozone kritisieren Deutschland aber gerade wegen der hohen Leistungsbilanzüberschüsse, die bei einem Erfolg von TTIP angesichts der hiesigen Wirtschaftsstruktur wohl noch steigen würden. Manche Ökonomen fordern eher eine verstärkte Konzentration auf die Binnenwirtschaft, den Konsum. Liegen die so falsch?Ein Leistungsbilanzüberschuss heißt nichts anderes, als dass ein Land netto Güter für das Ausland produziert. Im Gegenzug verschuldet sich das Importland und weist ein Leistungsbilanzdefizit auf. Defizitländer können unter Druck geraten, wenn die internationalen Investoren Zweifel an der Zahlungsfähigkeit bekommen und nicht mehr bereit sind, weiterhin Kapital zur Verfügung zu stellen. Der Druck zu einer soliden Haushaltspolitik und Strukturanpassungen steigt. Meist wird der Ball dann zurückgespielt. Schuld seien die Gläubiger, also übersetzt die Länder, die in der Vergangenheit bereit waren, Güter gegen – im Extremfall wertlose – Forderungen zu tauschen. Ob dieses Modell aus deutscher Sicht so sinnvoll ist, kann durchaus bezweifelt werden.- Die EZB scheint derzeit die einzige Institution in der Eurozone zu sein, die eine auf Wachstum ausgerichtete Politik betreibt…. und das ist durchaus zwiespältig zu bewerten. Denn die EZB operiert im geldpolitischen Grenzbereich. Die Kombination aus negativen Zinsen auf Einlagen der Banken und dem Ankauf von Wertpapieren entbehrt außerdem jeglicher historischer Erfahrung. Die Nebenwirkungen sind dagegen jetzt schon sichtbar. Zwar profitieren die Staaten vom Rückgang der Zinsen. Anreize zu Reformen und Haushaltskonsolidierung gehen aber verloren. Der kontinuierliche Ankauf von Staatsanleihen führt außerdem zu Marktverzerrungen, und der Rückgang der Liquidität erhöht die Schwankungsanfälligkeit an den Anleihemärkten. Das Gleiche wiederholt sich nun bei Unternehmensanleihen. Die EZB sollte deshalb ihre Instrumente kritisch überprüfen und im Zweifel eher wieder Abstand davon nehmen.- Aber besteht nicht tatsächlich die Gefahr einer Deflation, welche die EZB regelrecht zum Handeln zwingt?Die Aufgabe der EZB ist es laut EG-Vertrag, für Preisniveaustabilität zu sorgen. Anfangs hat die EZB dieses Ziel als Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpeisindex für das Eurogebiet von “unter 2 %” definiert. Inzwischen ergänzt sie diesen Passus um “nahe 2 %”. Eine vertragliche Vorgabe von 2 % gibt es also gar nicht. Bei der Schaffung der Europäischen Währungsunion dominierte die Angst vor zu hoher Inflation, ausgelöst etwa durch Staatsfinanzierung über die Notenbank.- Im Moment liegt die Teuerung ja tatsächlich nahe oder sogar unter der Nulllinie. Deflation droht.Die Deflationsphobie der EZB kann empirisch nicht untermauert werden. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) verweist darauf, dass nach dem Zweiten Weltkrieg sinkende Verbraucherpreise sogar mit höherem Wachstum einhergingen. Letztendlich ist es nicht unplausibel, dass die Faktoren Demografie und Digitalisierung, die zu einem flacheren Wachstumspfad führen, auch die Inflation dämpfen. Somit steht die Sinnhaftigkeit der Zwei-Prozent-Marke in Frage. Ich vermute ohnehin, dass die EZB sich unterschwellig viel mehr Sorgen um den Zusammenhalt der Währungsunion macht, als sie nach außen kundtut.- Könnte eine Fiskalunion die Lösung sein, damit sich die EZB wieder ihren ureigensten Aufgaben widmen kann und die Eurozone stabilisiert wird?Eine Fiskalunion wird immer wieder als vermeintliche Lösung der Probleme der Europäischen Währungsunion ins Spiel gebracht. Doch die Delegation nach oben richtet es nicht. Das Grundelement Europas, nämlich Vielfalt, würde dem Bürokratismus und der Zentralisierung geopfert. Wettbewerb der Länder untereinander und Eigenverantwortung würden verloren gehen und damit auch das Grundprinzip der Europäischen Währungsunion, nämlich die konsequente Einhaltung des “No Bail-out”. Die Transferunion wäre komplett. Diese Erkenntnis setzt sich auch bei der Bevölkerung durch und führt zu einer gewissen Europaverdrossenheit.- Was tun?Damit die Eurozone eine Zukunft hat, muss der Weg zurück nach Maastricht gegangen werden. Die Staatsfinanzierung durch die Notenbank muss unterbunden, die No-Bail-out-Klausel wieder gelebt und eine Exit-Klausel für Staaten eingeführt werden. Für die politische Integration Europas bieten sich hingegen solche Bereiche an, bei denen Vielfalt keine Vorteile bringt. Der nächste Schritt der europäischen Integration sollte daher in der Zentralisierung der Außen- und Verteidigungspolitik und nicht in der Fiskalpolitik stattfinden.—-Das Interview führte Stephan Lorz.