Wiederaufbaufonds

Der Europäischen Union droht eine Verfassungskrise

Das Bundesverfassungsgericht hat Bundespräsident Steinmeier untersagt, das Zustimmungsgesetz zum Wiederaufbaufonds zu unterschreiben. Die Folgen für Deutschland können es in sich haben.

Der Europäischen Union droht eine Verfassungskrise

Vermutlich gibt es nur wenige Stimmen in Deutschland, die tatsächlich gegen einen gemeinsamen EU-Rettungsfonds zum Wiederaufbau nach der Coronakrise sind. Wie ein großes Programm Energien entfalten kann, zeigt sich gerade etwa in den USA. Auch dem dahinterstehenden Solidargedanken stimmen wahrscheinlich – trotz aller Differenzen über die von der Idee her ebenfalls so einleuchtende gemeinsame europäische Impfkampagne – die meisten Bundesbürger zu.

Nichtsdestotrotz ist dieser Fonds, wie im Übrigen alle Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) zur Konjunkturbelebung seit Beginn der Finanz- und Eurokrise, in Deutschland höchst umstritten. Jede Maßnahme wurde bisher von Klägergruppen, oft angeführt von dem CSU-Politiker Peter Gauweiler oder dem AfD-Gründer Bernd Lucke, angegriffen. Das Bundesverfassungsgericht, das nach dem Willen der Mitgliedstaaten für Klagen gegen Handlungen von EU-Organen, wie der EZB, nicht zuständig ist, hat durch seine jüngste Rechtsprechung, die unter dem Stichwort „Ultra Vires“ inzwischen europaweit bekannt wurde, aber eine solche Zuständigkeit begründet: Rechtsakte, die nach Auffassung der Karlsruher Richter offensichtlich den Kompetenzrahmen, der von den europäischen Verträgen gesetzt wurde, überschreiten, unterliegen insoweit seiner Jurisdiktion. Mit dieser Begründung hat es vor zehn Monaten – trotz eines anders lautenden EuGH-Urteils – das milliardenschwere Anleiheprogramm PSPP zeitweise gestoppt. Gelingen konnte dies nur deshalb, weil die Richter das Urteil ihrer Luxemburger Kollegen als schlechterdings „nicht vertretbar“ erachtet haben. Das ist unter Richtern ganz und gar unüblich und im Mai letzten Jahres – mitten in der ersten harten Phase der Pandemie – war völlig unklar, was die Konsequenzen sind.

Die EZB und die europäischen Institutionen konnten das Urteil nicht befolgen, denn ansonsten hätten sie dem Ergebnis faktisch zugestimmt. Letztendlich schien es dann so, als ob der Konflikt durch einen Kompromiss zwischen EZB und Bundestag aus der Welt geräumt wurde. Die EZB legte ihre ausführlichen Begründungen für das Anleihekaufprogramm vor und der Bundestag erklärte, dass er diese für im Sinne des Urteils ausreichend erachtet.

Befangene Richterin

Doch – wen wundert es – Peter Gauweiler ließ nicht nach. Er betrachtet dieses pragmatische und parlamentarisch legitimierte Vorgehen als eine Missachtung der Entscheidung und betreibt inzwischen seit mehreren Monaten dessen Vollstreckung. Eine Entscheidung ist dazu bis heute nicht ergangen, allerdings hat in der Zwischenzeit der zuständige zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die letzten Sommer neu ernannte Verfassungsrichterin und Frankfurter Professorin Astrid Wallrabenstein als befangen in diesem Verfahren ausgeschlossen, weil sie sich vor ihrer Wahl in einem Zeitungsinterview als „politische Europäerin“ bezeichnet hatte. Jede andere Aussage einer Verfassungsrichterin würde wohl Artikel 23 Grundgesetz, der die Bundesrepublik verpflichtet, an der Verwirklichung eines vereinten Europas und der Entwicklung der Europäischen Union mitzuwirken, nicht entsprechen. Doch die besondere Beziehung zwischen Karlsruhe und der EU geht weiter. Letzten Freitag hat wiederum der zweite Senat, derselbe Senat, der dem Europäischen Gerichtshof eine nichtvertretbare Rechtsauffassung bescheinigt hatte, in einer nicht begründeten Eilentscheidung (ohne Mitwirkung von Richterin Wallrabenstein) dem Bundespräsidenten untersagt, das deutsche Zustimmungsgesetz zum EU-Corona-Fonds zu unterschreiben. Ein weiterer einmaliger Vorgang, denn in der Vergangenheit verließ sich das Karlsruher Gericht auf entsprechende Zusicherungen des Bundespräsidialamtes. Natürlich ist eine einstweilige Anordnung noch keine abschließende Entscheidung, doch parallel läuft derzeit der Ratifikationsprozess in den anderen 26 Mitgliedstaaten. Viele haben bereits ihre Zustimmung erklärt.

Man kann über die geplante Finanzierung des Rettungsfonds geteilter Meinung sein, doch Bundestag und Bundesrat haben mit großer Mehrheit zugestimmt und dabei deutlich gemacht, dass ein Sonderfall wegen der Pandemie vorliegt, eine Krise, die es so noch nicht gab. Doch einmal angenommen – und genau dies legt die Anordnung von Freitag ja nahe – das Bundesverfassungsgericht bleibt bei seinem Stopp, was wären die Konsequenzen? Wäre dann Deutschland verpflichtet, nicht bei dem Fonds mitzuwirken, und ist es wirklich das Bundesverfassungsgericht, das darüber abschließend zu entscheiden hat? Schon bei dem Anleihekauf-Urteil vom letzten Mai stand im Raum, dass die EU-Kommission und auch andere Mitgliedstaaten Deutschland deswegen vor dem EuGH verklagen, und angesichts dessen klarer Entscheidung zugunsten von PSPP ist am Ausgang eines solchen Verfahrens nicht zu zweifeln.

Risiken für Deutschland

Wie viel nachliegender ist es insoweit jetzt, dass EZB, EU-Kommission und/oder andere Mitgliedstaaten den EuGH um einstweiligen Rechtsschutz gegen das Bundesverfassungsgericht ansuchen. Einmal ganz abgesehen davon, wie Deutschland dann gegenüber seinen Partnern dastünde: Das viel schwerwiegendere Problem wäre die sich daraus entwickelnde europäische Verfassungskrise. Denn wenn nicht schnell ein Kompromiss gefunden wird, könnte es zwei sich widersprechende Entscheidungen, eine aus Luxemburg und eine aus Karlsruhe, geben. Damit würde sich für den Bundespräsidenten die Frage stellen, welches Urteil er beachten muss. Die daraus resultierende Rechtsunsicherheit wäre Gift für Europa.