EUROPA HAT DIE WAHL

Der pragmatische Visionär und die Gewerkschafterin

Martin Schirdewan und Özlem Demirel sollen die Linken beim schwierigen Thema Europa führen - Fundamentalkritik an aktueller EU-Politik

Der pragmatische Visionär und die Gewerkschafterin

Von Andreas Heitker, BrüsselDass Martin Schirdewan irgendwann in die Politik gehen würde, war trotz seines familiären Hintergrunds lange Zeit keine ausgemachte Sache. Nach dem Politik-Studium und der anschließenden Promotion führte ihn sein Weg zunächst in den Journalismus. Schirdewan schrieb für die Zeitschrift “Utopie kreativ” der Rosa-Luxemburg-Stiftung, war zwei Jahre Leitender Redakteur bei “Sacco & Vanzetti”, dem Jugendmagazin des “Neuen Deutschland” und arbeitete später auch noch für die Zeitschrift “antifa”. Doch irgendwann gab es dann doch die “Lebensentscheidung für die Politik”, wie der heute 43-Jährige im Gespräch erzählt. Seine Motivation für diesen Schritt: Kampf gegen Rechtsextremismus und Faschismus und für mehr soziale Gerechtigkeit. “Ich kann Ungerechtigkeiten nicht aushalten.”Schirdewan ist in Ostberlin in einer sehr politischen Familie groß geworden, die ihn geprägt hat. Sein Großvater Karl Schirdewan war Kommunist und wurde von den Nationalsozialisten in den 1930er Jahren ins KZ verfrachtet. Er überlebte und engagierte sich nach dem Krieg dann in der DDR. Hier stieg er in den 1950er Jahren auf und galt eine Zeit lang als zweiter Mann des Staates hinter Walter Ulbricht. Er überwarf sich dann aber mit Ulbricht, wurde aus dem Politbüro und dem Zentralkomitee der SED ausgeschlossen und kaltgestellt.Nachdem auch seine Tochter Rosemarie 1990 noch für die PDS in die Volkskammer der untergehenden DDR eingezogen war, ist es jetzt am Enkel, Politik mitzugestalten. Der “Spiegel” sprach vor diesem Hintergrund kürzlich bereits vom “roten Adel”, den der in Deutschland in der breiten Öffentlichkeit eher unbekannte Martin Schirdewan bei den Linken verkörpere.Seit 2017 sitzt er bereits im EU-Parlament, als Nachrücker des nach Berlin abgewanderten Fabio De Masi. Im Wirtschafts- und Währungsausschuss (Econ) arbeitete Schirdewan im Zuge des Bankenpakets an der Neujustierung des europäischen Bankenabwicklungsregimes mit – auch, wenn er mit dem Ergebnis längst nicht einverstanden war. “Wie eine Löwin kämpfen”Im Krisenfall würden am Ende wieder die Steuerzahler die Kosten für die Misswirtschaft der Banken übernehmen dürfen, war sein warnendes Fazit. Der Linken-Abgeordnete hatte sich unter anderem für einfachere und noch höhere Eigenkapitalvorgaben eingesetzt mit weniger Ausnahmen. Im Econ gelte es aber, dicke Bretter zu bohren, betont Schirdewan, der mit eher leiser Sprache und mit Argumenten zu überzeugen versucht. Sich selbst beschreibt er dabei schon als jemand, der Visionen habe, der aber auch sehr pragmatisch an die Parlamentsarbeit herangehe. “Ich bin ein pragmatischer Visionär”, sagt er.Die Spitzenkandidatur in Deutschland übt Schirdewan gemeinsam mit Özlem Alev Demirel aus, einer der Gründungsmitglieder der Linken, die bereits im Stadtrat von Köln und im nordrhein-westfälischen Landtag gesessen hat. Die Mutter von zwei kleinen Kindern kam als 5-Jährige als Tochter einer politischen Flüchtlingsfamilie aus der Türkei nach Deutschland.Ihre politische Arbeit wird seit jeher aber eher durch ihre Arbeit als Gewerkschafterin und weniger durch ihren Migrationshintergrund geprägt. Auf die Frage, was ihr wichtigstes Ziel im EU-Parlament für die kommenden Jahre sei, sagte sie: “Ich werde als Gewerkschafterin wie eine Löwin dafür kämpfen, dass es endlich armutsfeste Mindestlöhne und eine Bremse für prekäre Beschäftigung gibt.” Dafür müssten unter anderem die Konzerne stärker zur Kasse gebeten werden.Die 35 Jahre alte Demirel verkörpert viel stärker noch als Schirdewan das gespaltene Verhältnis, dass die Linken zu Europa und zur EU haben, die viele aus der Partei als “militaristisch und neoliberal” brandmarken. Demirel greift diese Kritik auf und spricht bei ihren engagierten Auftritten von den Fehlern der “real existierenden Politik der EU-Institutionen”. Sie wolle diese nicht abschaffen, aber eine Kehrtwende in der Politik. Der europäische Binnenmarkt, so ihr wiederkehrendes Argument, sei in den letzten Jahren “für Lohn- und Steuerdumping missbraucht” worden. Dies müsse sich ändern.Laut aktueller Prognosen können die Linken in Deutschland mit rund 7 % der Stimmen rechnen, was auch sieben Mandate für das nächste EU-Parlament bedeuten würde – eines mehr als noch vor fünf Jahren. Europaweit kommt die linke Parteienfamilie nach aktuellem Stand auf 46 Sitze im neuen Plenum. Sie kämen damit auf einen Stimmanteil von rund 6 %, was etwas weniger ist als bisher. Die Abgeordneten würden aus 14 Ländern kommen. EU-Kandidaten Tomic und CuéAuf europäischer Ebene haben die Linken ebenfalls zwei Spitzenkandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten benannt. Diese haben zwar keine realistische Chance, dieses Amt auch zu bekommen, versuchen aber in Wahlkampfauftritten und den diversen TV-Duellen das Programm der Linken entsprechend zu promoten.Zu den Spitzenkandidaten gehört zum einen Violeta Tomic aus Slowenien. Die 56-Jährige war Schauspielerin und TV-Moderatorin und ist in ihrem Land entsprechend bekannt. Heute ist sie Abgeordnete im slowenischen Parlament. An ihrer Seite steht der Belgier Nico Cué, der auch am jüngsten europaweit übertragenen TV-Duell der Spitzenkandidaten teilgenommen hatte. Der 62-Jährige war bis 2018 der Generalsekretär einer wallonischen Metallarbeiter-Gewerkschaft. Er sieht seine Kandidatur symbolisch – fürs neue EU-Parlament bewirbt er sich nicht.