EUROPA HAT DIE WAHL

Der Umtriebige und die Ehrgeizige

Sven Giegold und Ska Keller führen als Spitzenkandidaten eine Partei im Höhenflug durch den Europawahlkampf - Deutsche Grüne weiten Einfluss aus

Der Umtriebige und die Ehrgeizige

Von Andreas Heitker, BrüsselEs gibt wohl nur wenige Politiker im EU-Parlament, die so gut vernetzt sind, wie Sven Giegold, der Spitzenkandidat der deutschen Grünen für die anstehende Europawahl. Auf seinem Verteiler stehen allein rund 5 000 Namen aus dem Finanzsektor. Seit seiner Initiative gegen das geplante Kreditregister der Europäischen Zentralbank (Anacredit) 2015 stehen die Namen von 1 000 Vorständen deutscher Sparkassen und Volksbanken in Giegolds Register. Fast 100 000 Menschen haben seinen Newsletter abonniert. 1 200 Unterstützer zählt er in seinem aktuellen Wahlkampfteam. Und da verwundert es nicht, dass zu Beginn seines Europawahlkampfes eine Rundmail ausreichte, um 90 000 Euro an Spenden für den laufenden Wahlkampf einzusammeln.Der 49-Jährige weiß, wie Kampagnen funktionieren. Und er weiß, wie moderne Politik funktioniert. Ob über Twitter, seine Webseite, über Newsletter und eine intensive Medienarbeit oder auch über neue Formate wie seine Reihe “Europe Calling”, in der er sich in Telefonkonferenzen den Fragen von Interessierten stellt, ist Giegold ständig in der (europäischen) Öffentlichkeit präsent. Gelernt hat der Finanzexperte dies vor allem bei der globalisierungskritischen Nichtregierungsorganisation Attac, dessen deutschen Ableger er im Jahr 2000 mit begründete und wo er acht Jahre aktiv war.Angefangen hatte alles über ein Engagement für den Umweltschutz in der Schulzeit, seine Mitarbeit beim BUND in Hannover, wo er groß geworden ist, und der dortigen Arbeitsgemeinschaft “Tümpel und Lurche”, wie Giegold einmal erzählt hat. Im Gegensatz zu seinen Mitschülern macht er später nie den Führerschein und hat ihn bis heute nicht. Im Zuge seiner bundesweiten Wahlkampftour mit dem Elektroauto, die ihn allein in dieser Woche noch durch 13 Städte führt, sitzt er daher auch nicht selbst am Steuer.Erst im September 2008 tritt der studierte Wirtschafts- und Politikwissenschaftler den Grünen bei und gibt zugleich auch seine Arbeit bei Attac auf. Schon neun Monate später ist er EU-Abgeordneter. Als Finanzexperte seiner Partei sitzt er seither im einflussreichen Wirtschafts- und Finanzausschuss des Parlaments (Econ) und begleitete damit auch die Brüsseler Aufarbeitung der Finanzkrise von Beginn an. Protestant und RomantikerZu Giegolds Schwerpunkt-Themen gehört auch heute noch die Regulierung der Finanzmärkte sowie die Weiterentwicklung der Währungsunion. Hinzu kam in den vergangenen Jahren immer mehr auch der Kampf für mehr Steuergerechtigkeit und gegen den Einfluss von Lobbyisten. Was bei ihm für die nächste Legislatur ganz oben auf der Agenda steht? Eine weitere Vereinfachung der Meldeanforderungen für Banken, eine weitere Entlastung von kleineren Banken bei der Regulierung sowie ein gesetzliches Rahmenwerk für Kryptowährungen.Von eigenen bundespolitischen Ambitionen will Sven Giegold im Gespräch erst einmal nichts wissen. Er verweist darauf, dass das Plenum im Brüssel und Straßburg als das “Expertenparlament” gelte, wo man wirklich gestalten könne. Man versteht aber auch, dass Giegold mit den Machtspielen und Eitelkeiten in Berlin nicht viel anfangen kann. Eine deutsche Regionalzeitung bezeichnete ihn wegen seiner immer äußerst sachlichen, protestantischen Art kürzlich einmal als den “Anti-Habeck” der Grünen.Persönliche Gefühle gestattet sich der gläubige Christ, der sich auch in der evangelischen Kirche engagiert, in seiner politischen Arbeit nur selten. Nach dem Brand in der Kathedrale Notre-Dame räumte er aber öffentlich ein, er habe geweint. Schließlich sei er seit seiner Studienzeit in Paris auch ein “deutsch-französischer Romantiker”. Die Welt würde seiner Ansicht nach heute auch anders aussehen, wenn es eine konstruktive Unterstützung der Bundesregierung für die Reformideen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gegeben hätte.Den Europawahlkampf bestreitet Giegold zusammen mit Ska Keller, die sogar in doppelter Funktion aktiv ist: zum einen als deutsche, zum anderen – zusammen mit dem niederländischen Europaabgeordneten Bas Eickhout – aber auch als europäische Spitzenkandidatin der Grünen. Keller, die ebenso wie Giegold schon seit zehn Jahren im Europaparlament sitzt, bewirbt sich damit ganz offiziell um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten.Franziska – so ihr offizieller Name – Keller ist in der Niederlausitz in Brandenburg groß geworden und hat später Islamwissenschaft, Turkologie und Judaistik in Berlin und Istanbul studiert. Im EU-Parlament hat sie sich auf die Migrations- und Asylpolitik, die EU-Beziehungen zur Türkei und ein wenig auch auf die Handelspolitik konzentriert. Als 2016 Rebecca Harms wegen einer immer mal wieder in der Partei aufblitzenden Europaskepsis den Fraktionsvorsitz hinschmiss, übernahm die als ehrgeizig geltende Ska Keller, die vier Sprachen fließend spricht, das Amt. Sechs Mandate mehr erwartetDie Wahl dürfte die Stellung und den Einfluss von Ska Keller innerhalb der europäischen Grünen noch weiter stärken. Denn in Deutschland befindet sich die Partei auf einem Höhenflug und könnte laut aktuellen Prognosen 18 Mandate erhalten – sechs mehr als bisher. Fast ein Drittel der Grünen-Abgeordneten käme dann künftig aus Deutschland. Lediglich die britischen Grünen (plus vier Sitze) würden ähnlich positiv abschneiden. Sollte dies so eintreffen, hätten die Grünen künftig einen Stimmanteil im neuen EU-Parlament von insgesamt 7,6 %.