Deutsch-französische Missverständnisse

Von Stephan Lorz, Frankfurt Börsen-Zeitung, 14.7.2016 Seit Jahrzehnten reden französische und deutsche Politiker aneinander vorbei. Die einen streben in Streitfragen des Miteinanders in der Eurozone immer eine "politische Lösung" an in Anbetracht...

Deutsch-französische Missverständnisse

Von Stephan Lorz, FrankfurtSeit Jahrzehnten reden französische und deutsche Politiker aneinander vorbei. Die einen streben in Streitfragen des Miteinanders in der Eurozone immer eine “politische Lösung” an in Anbetracht der – stets – besonderen Umstände, die anderen bestehen auf den einmal vereinbarten Verträgen und Pflichten nach dem Motto: pacta sunt servanda. Die einen begreifen Europa als Möglichkeit, ihre Altlasten in der Gemeinschaft entsorgen zu können, die anderen verlangen vor jeglicher Vergemeinschaftung einen Abbau derselben und strikte Verhaltensregeln für die Zukunft. Die einen sehen Europa als Bollwerk gegen Wettbewerb, die anderen begreifen es als Katalysator, um die Stellung des Kontinents auf dem Weltmarkt zu stärken.Eine Policy Lecture von Xavier Ragot vom französischen Wirtschaftsforschungszentrum OFCE im Frankfurter House of Finance illustrierte am Mittwoch, dass die Missverständnisse bis weit in die Ökonomenzunft der beiden Länder hineinreichen. Denn nach ihm ist es nicht der Pariser Unwille gegen Reformen jeglicher Art, sind es nicht die hohen Lohnsteigerungen und die trotz hoher Verschuldung kaum beschnittenen Staatsausgaben, die Frankreich lähmen, sondern der Erfolg Deutschlands. Berlin, so der kaum verhüllte Vorwurf, lege es durch seine Wettbewerbsausrichtung, seine Reformpolitik sowie durch die hingenommenen moderaten Lohnabschlüsse geradezu darauf an, seinen westlichen Nachbarn und damit die ganze Eurozone zu schwächen. Die Unternehmen hätten dadurch über Jahre viel mehr Geld in Forschung und Entwicklung (F & E) stecken können als ihre europäischen Konkurrenten. In einem Aufsatz beschuldigt Ragot Deutschland sogar, mittelbar für rund zwei Prozentpunkte der französischen Arbeitslosenquote verantwortlich zu sein.Natürlich werden von Ragot in diesem Zusammenhang auch alle anderen Vorhaltungen gegenüber Berlin heruntergebetet: Die den Krisenländern auferlegte Fiskaldisziplin und die Reformpflichten hätten die Nachfrage so stark gezügelt, dass die Arbeitslosenrate dramatisch angestiegen sei und diese Länder gar nicht erst in Reichweite der Defizitvorgaben gekommen seien. Zugleich würden die immensen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse die hiesigen Unternehmen so härten, dass alle anderen Euro-Volkswirtschaften auf absehbare Zeit abgehängt seien.Ragots Lösungsvorschlag für eine “reformierte” Eurozone liegt insofern auf der Hand: Drastische Lohnerhöhungen soll die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beschneiden, deutlich mehr Staatsausgaben die Nachfrage (auch nach französischen Produkten) hierzulande ankurbeln, die Einführung einer europäischen Arbeitslosenversicherung würde Europa “zusammenwachsen” lassen, und letztlich müssten natürlich die Staatsschulden europäisiert – also vergemeinschaftet – werden. Letzteres stellt nach Ansicht von Ragot für Deutschland gar kein Problem dar, weil seiner Prognose zufolge die Schulden einst ganz automatisch sinken – unter anderem wegen der schon bald wieder steigenden Inflation. Es komme ja nur auf die zeitliche Perspektive an – Berlin denke immer viel zu kurzfristig.Dass die Hoffnungen auf diesen Mechanismus sich bisher kaum bewahrheitet haben, in besseren Zeiten die Politik zudem lieber die Ausgaben steigert als die Schulden verringert, blendet Ragot aus. Fakten sind im Pariser Denkmuster nämlich keine unumstößliche Größe, sondern haben sich der Politik stets unterzuordnen. ——–Der französische Ökonom Xavier Ragot liest Berlin die ökonomischen Leviten.——-