JAHRESGUTACHTEN DER WIRTSCHAFTSWEISEN - IM INTERVIEW: VOLKER WIELAND

"Deutschland kann mit höherem Wachstum aus den Schulden herauskommen"

Der Wirtschaftsweise über die Folgen der Corona-Pandemie für die Wirtschaft sowie die Reaktionen der Politik und der Europäischen Zentralbank

"Deutschland kann mit höherem Wachstum aus den Schulden herauskommen"

Herr Professor Wieland, die deutsche Wirtschaft hat sich im dritten Quartal deutlich erholt, dann aber schon vor dem erneuten Lockdown deutlich an Schwung verloren. Wie schlimm steht es um die deutsche Wirtschaft?Die Erholung im dritten Quartal war schon beeindruckend und mit einem Wachstum von 8,2 % besser als erwartet. Deshalb haben wir unsere Jahresprognose für 2020 gegenüber Juni von – 6,5 % auf – 5,1 % hochrevidiert. Wir haben auch schon die Auswirkungen des erneuten, begrenzten Shutdowns berücksichtigt, der das Wachstum im Winter ausbremst. Für das vierte Quartal rechnen wir mit – 0,3 % und mit + 0,3 % im ersten Quartal 2021 – also Nullwachstum im Winter. Ohne Infektionsanstieg und Shutdown läge das Wachstum etwa 0,9 % beziehungsweise 0,6 % höher. Der wirtschaftliche Schaden ist aber überschaubar, weil nur ein kleinerer Teil der Wirtschaft betroffen ist und internationale Lieferketten nicht wieder unterbrochen sind. Diese Woche gab es positive Nachrichten über einen aussichtsreichen Impfstoffkandidaten. Sehen Sie da bereits Anpassungsbedarf für die Prognose?Im Gutachten haben wir besonders die Risiken betont, dass es wieder zu schärferen Maßnahmen und wiederholten Infektionsanstiegen kommen kann und dann zu einer deutlich schlechteren wirtschaftlichen Entwicklung. Mit Blick auf den neuen Impfstoffkandidaten würde ich die Chancen stärker betonen, aber nicht die Konjunkturprognose jetzt schon anheben. Ermutigend ist, wenn man den Informationen glauben darf, dass der Impfstoff recht effektiv zu sein scheint, deutlich besser als die Grippeimpfung. Eine große Sorge ist aktuell eine Insolvenzwelle, die negative Folgen auf den Arbeitsmarkt haben und später zu einer weiteren Nachfrageschwäche führen könnte. Teilen Sie diese Sorge?Insolvenzen sind in Rezessionen unvermeidbar. Das kann man nicht ohne Weiteres aufschieben. Die Stützungsmaßnahmen werden zum Teil zu einer Überschuldung von Unternehmen führen. Insbesondere diejenigen, deren Geschäftsmodelle schon vor der Krise gerade noch so funktioniert haben, werden nach der Krise nicht mehr so weitermachen können. Der Staat sollte nicht versuchen, diese Unternehmen dauerhaft am Leben zu halten. Wenn sich die Erholung verfestigt, sollten die Stützungsmaßnahmen auslaufen. Dafür gibt es in anderen Bereichen zukünftig mehr Wachstum. Der Digitalisierungsschub eröffnet neue Chancen. Bundesregierung und EU haben beispiellose Fiskalpakete aufgelegt. Wie bewerten Sie die Maßnahmen? Und besteht jetzt schon Bedarf nachzulegen?Die Kredite und Überbrückungshilfen der Bundesregierung, die im Frühjahr eingeführt und in Teilen nachgebessert wurden, sind sehr sinnvoll. Das Konjunkturpaket trägt nach unseren Schätzungen 2020 zwischen 0,7 und 1,3 % zum BIP bei. Die Umsatzsteuersenkung wurde wohl zumindest von Supermärkten weitgehend weitergegeben. Aber eine Umfrage, die wir in Auftrag gegeben haben, zeigt, dass nur ein kleinerer Teil der Verbraucher größere Käufe vorzieht. Im Übrigen ist das jetzt aus konjunktureller Sicht auch nicht mehr sinnvoll, denn das erste Quartal 2021 wird ja ebenfalls schwach. Die Umsatzsteuersenkung war teuer für den Staat, dürfte aber nicht allzu viel für die Konjunktur bringen. Wären Steuersenkungen aktuell ein probates Mittel, zumal die deutschen Steuern im internationalen Vergleich recht hoch sind? Oder müssen die Steuern perspektivisch eher steigen, um die enorm gestiegene Staatsverschuldung wieder zurückzufahren?Jetzt eine Erhöhung der Ertragsteuern, also Lohn- und Einkommensteuer oder Unternehmenssteuern, zu planen, würde das Wachstum kurz- und längerfristig schwer schädigen. Im Gegenteil: Es sollte klargestellt werden, dass man mit höherem Wirtschaftswachstum aus den Schulden herauskommen will. Wir erwarten, dass die Schuldenstandsquote in Deutschland von knapp 60 % 2019 dieses Jahr auf gut 72 % steigt und dann 2021 einen Tick zurückgeht. Mit den richtigen Rahmenbedingungen kann Deutschland durch Wachstum die Quote reduzieren. Dazu gehört auch, nicht alle Ausgabenwünsche zu bedienen. Mittelfristig sollten die Staatsausgaben etwas weniger wachsen als die Wirtschaftsleistung, um die Schuldenquote langsam zurückzuführen. Steuererhöhungen wären also kontraproduktiv?Eine Vermögensteuer würde Investitionsanreize stark beeinträchtigen und ist dringend abzulehnen. Sinnvoll wäre es, den Soli komplett abzuschaffen, denn den zahlen auch Unternehmen. Die USA, Frankreich und Italien haben Unternehmenssteuern gesenkt oder planen das noch, da muss man auch in Deutschland die Wettbewerbsfähigkeit im Auge behalten. Wie sehr verschärft die Coronakrise die demografischen Probleme und die Herausforderungen für die Altersvorsorge und die Sozialsysteme?Zunächst einmal führt die Coronakrise dazu, dass die Renten stärker steigen als die Löhne. Deshalb sollte der sogenannte Nachholfaktor in der Rentenformel, der 2018 ausgesetzt wurde, wieder eingesetzt werden. Da bald mehr und mehr Babyboomer in Rente gehen, verschlechtert sich die Tragfähigkeit der Rente, die auf dem Umlageverfahren basiert. Denn die arbeitenden Generationen sind weniger geburtenstark. Gleichzeitig steigt die fernere Lebenserwartung. Deshalb ist es so wichtig, dass das Renteneintrittsalter an die fernere Lebenserwartung gekoppelt wird. Praktisch heißt das: Zwei Drittel der zusätzlichen erwarteten Lebenszeit geht in die Erwerbsphase und ein Drittel in die Ruhestandsphase. Bereits im vergangenen Jahr hat der Sachverständigenrat im Gutachten eine stagnierende gesamtwirtschaftliche Produktivität moniert. Wie schaut es jetzt aus?Im neuen Gutachten haben wir den Innovationsprozess genau analysiert. Der Staat fördert Grundlagenforschung und angewandte Forschung durchaus intensiv. Die Großunternehmen stecken auch viel Geld in Forschung und Entwicklung, insbesondere im Fahrzeugbau. Bei kleineren und mittleren Unternehmen sind die Innovationsausgaben dagegen relativ niedrig. Besonders wichtig ist die Digitalisierung. Gerade in der öffentlichen Verwaltung gibt es großen Nachholbedarf. Gesundheitsämter könnten alle Daten online übermitteln, und Genehmigungsprozesse für neue Investitionen könnten stärker digital bearbeitet werden, um zwei Beispiele zu nennen. Die Klimaschutzpolitik der Bundesregierung wird von vielen kritisiert – von den einen als zu lasch, von den anderen als zu ambitioniert. Was ist in ihren Augen ein realistisches Ziel und was kann die Wirtschaft verkraften, insbesondere die so wichtige Industrie?Es herrscht Einigkeit über das Ziel, CO2-Emissionen deutlich zu reduzieren. Aber es wird noch zu viel mit kleinteiligen ordnungsrechtlichen Maßnahmen und Subventionen hantiert. Das kommt wirtschaftlich sehr teuer. Der Emissionshandel auf EU-Ebene setzt eine Begrenzung der Emissionen sicher und kostengünstig durch. Leider gilt er nur für den Energiesektor und die Industrie. Zumindest sieht das Klimagesetz aus dem vergangenen Jahr einen CO2-Preis und späteren Emissionshandel für die Sektoren Mobilität und Gebäude vor, deren Emissionen in nationaler Verantwortung liegen. Diesen Weg sollten wir konsequent verfolgen und in der EU insgesamt in die gleiche Richtung gehen. Aber letztlich kann das Problem nur global gelöst werden. Die neuerliche Zuspitzung der Corona-Pandemie lässt auch die Zentralbanken wieder in den Fokus rücken, und EZB und Fed haben neue expansive Maßnahmen im Dezember avisiert. Rechtfertigt die aktuelle Lage weitere Lockerungen und was kann die Geldpolitik in der Krise überhaupt (noch) bewirken?Die EZB hat bereits Anleihekäufe im Umfang von gut 14 % der Wirtschaftsleistung von 2019 beschlossen. Zum Vergleich: Der EZB-Stab prognostiziert einen Anstieg der Schuldenstandsquote von 16 % für 2020. Die EZB kauft also Papiere in ähnlichem Umfang auf. Kein Wunder, dass sich die Mitgliedstaaten sehr gut am Markt finanzieren können und selbst auf die günstigeren ESM-Kredite, die minimalste Konditionen bedeuten, verzichten. Das geplante Kaufvolumen des PEPP-Programms ist noch lange nicht ausgeschöpft. Die EZB könnte die Aufkäufe unter dem Programm sogar beschleunigen und trotzdem bis weit in die erste Jahreshälfte 2021 fortsetzen. Ich sehe keine Notwendigkeit, jetzt schon das Volumen zu erhöhen. Bundesbankpräsident Jens Weidmann warnt sehr offen vor einer “fiskalischen Dominanz”. Besteht auf Dauer die Gefahr, dass das Preisstabilitätsmandat der Solvenz der Euro-Staaten untergeordnet wird?Es gilt auf jeden Fall das Risiko der fiskalischen Dominanz zu vermeiden. Dafür ist es notwendig, im Zuge einer Normalisierung der Wirtschaftslage die Notfallprogramme einzustellen. Zudem sollte eine Strategie entwickelt und kommuniziert werden, wie man die hohen Staatsanleihebestände wieder zurückführt. Sollte die EZB ihre Geldpolitik stärker nicht nur am vorrangigen Ziel der Preisstabilität, sondern auch an der Unterstützung der allgemeinen EU-Wirtschaftspolitik ausrichten, also etwa stärker auf Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung abzielen?Sie macht das bereits. Schon 1998 hat sie klargestellt, dass sie die Preisstabilität mittelfristig verfolgt, unter anderem, um Spielraum zu gewinnen, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung zu berücksichtigen. Jetzt kommt es aber darauf an, dass sie zudem die negativen Effekte der immensen Anleihekäufe in den Blick nimmt, etwa für die Entwicklung und Fragilität von Vermögenspreisen, für die Risiken im Bankensystem und für die Gefahr einer fiskalischen Dominanz der Geldpolitik. Die Fragen stellten Alexandra Baude und Mark Schrörs.