LEITARTIKEL

Dicke Luft in China

Auf der Suche nach Signalen für eine Wirtschaftserholung wollen sich die Ökonomen wegen der besonderen Umstände der Corona-Pandemie gegenwärtig nicht allein auf tradierte Daten wie die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der...

Dicke Luft in China

Auf der Suche nach Signalen für eine Wirtschaftserholung wollen sich die Ökonomen wegen der besonderen Umstände der Corona-Pandemie gegenwärtig nicht allein auf tradierte Daten wie die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der Industrieproduktion und Einzelhandelsumsätze oder der Kreditvergabeaktivität verlassen. Vielmehr achtet man zusätzlich auf eine ganze Reihe von Nebenindikatoren, die Aufschluss darüber geben können, ob eine Wirtschaft nach einem dramatischen Einbruch wieder in Schwung zu kommen scheint. China steht dabei unter besonderer Beobachtung. Nicht nur weil die weitgehend staatsgelenkte Wirtschaft eine zugkräftige Lokomotive für die Weltkonjunktur abgibt, sondern auch weil das Reich der Mitte unter den großen Volkswirtschaften als erste die Epidemie weitgehend und erfolgreich zurückdrängen konnte.Chinas Konjunkturdaten der letzten Wochen lassen noch keine eindeutigen Schlüsse darauf zu, ob die weltweit zweitgrößte Volkswirtschaft tatsächlich das Kunststück eines sogenannten V-förmigen Konjunkturverlaufs, sprich einer zügigen Erholung nach dem gnadenlosen Absturz im ersten Quartal, hinlegen kann. Es gibt allerdings einen Nebenindikator, der anzeigt, dass Teile der Wirtschaft bereits wieder voll unter Dampf stehen: In zahlreichen Großstädten, die über Monate hinweg in den Genuss von ungewöhnlich reinlichen Luftverschmutzungswerten gekommen waren, sind in den letzten Wochen die vormals gewohnten Smogwolken wieder aufgezogen.Ob die dicke Luft nun beklagt oder beklatscht werden soll, sei dahingestellt. In jedem Fall aber ist dies ein klarer Indikator dafür, dass die Wirtschaftsaktivität im Reich der Mitte, zumindest was den Straßenlastverkehr und die besonders verschmutzungsträchtigen traditionellen Schwerindustriesektoren angeht, wieder zu reichlicher Dynamik zurückgekehrt ist. Für einen nachhaltigen Aufschwung braucht es allerdings nicht nur Rauchwolken über Peking, Schanghai und Guangzhou, sondern eine überzeugende Erholung im Dienstleistungssektor und an breiter Konsumfront. Hier scheint es noch großen Nachholbedarf zu geben. Wieder anziehende Verkaufszahlen im Automobilsektor beispielsweise gehen in erster Linie auf im Industrie- und Logistikgewerbe verwendete Nutzfahrzeuge zurück. Sie lassen noch nicht erkennen, dass die Verbraucher im weltgrößten Fahrzeugmarkt wieder beherzter nach Familienkutschen und Luxuslimousinen greifen.Stärker im Vordergrund steht auch der heimische Arbeitsmarkt. Noch sehen die Beschäftigungszahlen mit einem Anstieg der sich typisch eng um die 5-Prozent-Marke bewegenden Arbeitslosenrate in urbanen Gebieten auf nunmehr gut 6 % – zumindest im Vergleich mit westlichen Industriestaaten – geradezu glänzend aus. Allerdings ist die Beschäftigungslage in ländlichen Gegenden und die Jobsituation bei den Millionenscharen von Wanderarbeitern eine statistisch kaum erfasste Dunkelziffer. Es gibt Anlass zur Befürchtung, dass soziale Spannungen in den Niederungen des Reichs der Mitte zu schwelen beginnen. Genau dies kommt dem Staatsapparat ganz und gar nicht gelegen. Zum jetzt mit fast dreimonatiger Coronaverspätung beginnenden jährlichen Volkskongress ist es ein besonderes Anliegen der Parteiführung, Chinas glanzvolle Auferstehung aus der Pandemiekrise mit möglichst viel nationaler und internationaler Breitenwirkung zu zelebrieren.Über Luftverschmutzung und Klimaschutz wird man beim einwöchigen Volkskongress in Peking diesmal sicherlich nicht viel debattieren wollen. Zentrales Thema neben der Pandemiebekämpfung ist vielmehr die Fähigkeit der Regierung, weiteren Stimulierungsbedarf im Dienste einer raschen Wirtschaftserholung auszutarieren. Dabei darf die Schubkraft nicht allein von der Industrie und öffentlichen Infrastrukturprogrammen ausgehen.Die fiskalischen Programme müssen vor allem der Konsumförderung, der Einkommenssituation und der Arbeitsplatzschaffung dienlich sein. Das ist mit Blick auf die wachsende Verschuldung und die schlechten Erfahrungen mit überzogenen Stimuli im Nachgang zur globalen Finanzkrise vor zehn Jahren ein besonders schwieriger Balanceakt. Noch weiß man nicht, ob Peking aufgrund der Corona-Sondersituation erstmals auf die Vorgabe eines förmlichen BIP-Wachstumsziels verzichten wird. Was man aber bereits weiß, ist, dass ein rasch anziehendes, aber einseitiges Wirtschaftswachstum diesmal nicht ausreichen wird, um eine überzeugende Gesundung der Wirtschaft unter Beweis zu stellen.——Von Norbert HellmannChinas Schwerindustrie steht wieder voll unter Dampf. Das reicht aber nicht aus, um eine zügige Wirtschaftserholung in Coronazeiten zu gewährleisten. ——