Die Ära Draghi auf dem Prüfstand

Beim 23. Finanzmarkt-Roundtable wird EZB-Präsident positives Zeugnis ausgestellt - Sinkender Realzins und niedrige Inflation als Herausforderungen für Nachfolger

Die Ära Draghi auf dem Prüfstand

In 170 Tagen endet die Amtszeit von EZB-Präsident Mario Draghi. Inzwischen ist nicht nur die Debatte über seine Nachfolge voll entbrannt, sondern auch die Diskussion über die Bilanz seiner Amtszeit und sein “Vermächtnis” für den Nachfolger oder die Nachfolgerin an der Spitze der Zentralbank. Von Mark Schrörs, FrankfurtSeit Anfang November 2011 steht Mario Draghi an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB). In rund einem halben Jahr ist dann Schluss für den Italiener. Wie aber fällt nach acht Jahren die Bilanz der “Ära Draghi” aus? Was bleibt von ihm – im Guten wie im Schlechten? Und welche Herausforderungen hinterlässt Draghi seinem Nachfolger – oder seiner Nachfolgerin? Diese Fragen standen gestern im Zentrum einer lebhaften Diskussion beim 23. Finanzmarkt-Roundtable des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), der DekaBank und der Börsen-Zeitung.Das Urteil der beteiligten Ökonomen über das Wirken Draghis fiel durchaus wohlwollend aus – zumal im Vergleich dazu, dass die von Draghi wesentlich vorangetriebene ultralockere Geldpolitik nach der Weltfinanz- und der Euro-Staatsschuldenkrise in Deutschland sonst auf viel und teils scharfe Kritik stößt. Unvergessen ist etwa die Aussage von Ex-Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), der die EZB-Politik 2016 sogar mitverantwortlich gemacht hatte für das Erstarken populistischer Kräfte wie der AfD. “Whatever it takes””Innerhalb des herrschenden geldpolitischen Paradigmas hat Draghi alles richtig gemacht”, sagte gestern beispielsweise Ulrich Kater, Chefvolkswirt der DekaBank. Er widersprach insbesondere dem in Deutschland verbreiteten Vorwurf, Draghi betreibe eine Geldpolitik zur Rettung der italienischen Staatsfinanzen. Das werde schon dadurch widerlegt, dass alle anderen großen Zentralbanken ebenfalls zu Instrumenten wie dem breiten Staatsanleihekauf (Quantitative Easing, QE) gegriffen hätten, um das Wachstum und die Inflation anzukurbeln.Peter Tillmann, Wirtschaftsprofessor an der Universität Gießen, hob insbesondere Draghis berühmte “Whatever it takes”-Rede aus dem Sommer 2012 hervor. Auf dem Höhepunkt der Euro-Krise, als Investoren auf ein Auseinanderbrechen der Währungsunion wetteten, beruhigte Draghi damals mit wenigen Worten die Situation. Das sei “ein Meisterstück der Zentralbankkommunikation” gewesen, so Tillmann.Tatsächlich steht diese Rede Draghis aber auch beispielhaft für die extreme Kluft in der Wahrnehmung Draghis. Für die einen ist er der “Super-Mario”, der die Eurozone quasi im Alleingang vor dem Kollaps gerettet hat und der sie später auch mit QE vor dem “Deflationsgespenst” bewahrt hat – und sie modernisiert. Für die anderen dagegen ist Draghi derjenige, der die Grenzen des EZB-Mandats maßlos überschritten hat, der die Saat für die nächste Finanzkrise legt — und der die EZB, einst in der Tradition der Bundesbank, zu einer Kopie der US-Notenbank, quasi zu einer Fed 2.0, macht.Dass das Urteil der beim Finanzmarkt-Roundtable vertretenen Ökonomen eher positiv ausfiel, hatte aber auch damit zu tun, dass sie alle Draghi mehr oder weniger als eine Art Getriebenen ansehen. Vor allem zwei langfristige Trends seien dabei zu berücksichtigen: der seit Jahrzehnten anhaltende Rückgang des natürlichen Realzinses und der anhaltende Rückgang der Inflation. Beides habe die “Leitplanken” vorgegeben, in denen sich die EZB unter Draghi habe bewegen können, so Kater.Für den sinkenden Realzins machten die Experten vor allem Faktoren wie die Digitalisierung und die Demografie verantwortlich – und nicht die Geldpolitik. Allerdings gibt es da auch andere Meinungen. So argumentiert die Zentralbank der Zentralbanken BIZ und vor allem deren Chefvolkswirt Claudio Borio, dass das geldpolitische Regime sehr wohl einen entscheidenden Einfluss habe: Niedrige Zinsen führten zu immer niedrigeren Zinsen. Was schließlich den Rückgang der Inflation betrifft, sahen die Experten diesen nicht zuletzt durch die erfolgreiche Arbeit der Zentralbanken seit den 1980er Jahren begründet. “Die Notenbanken sind da also auch Opfer ihres eigenen Erfolgs”, sagte etwa IW-Chef Michael Hüther. Kater warnte zugleich aber davor, die Inflation bereits für “tot” zu erklären. Wer folgt auf Draghi?Die niedrige Inflation und der sinkende Realzins werden aus Sicht von Markus Demary, EZB-Experte am IW, auch die großen Herausforderungen für den Nachfolger oder die Nachfolgerin von Draghi sein. Das Rennen ist längst eröffnet. Beobachter sehen Frankreichs Zentralbankchef François Villeroy de Galhau derzeit mit den besten Chancen (vgl. BZ vom 9. Mai). Abhängig vom Ausgang der Europawahl vom 23. bis 26. Mai gilt aber auch Bundesbankpräsident Jens Weidmann als Top-Kandidat.Angesichts der langfristigen strukturellen Entwicklungen rund um den Realzins und die Inflation vermittelten die Volkswirte beim Roundtable eher den Eindruck, dass es gar nicht so entscheidend sei, wer auf Draghi folge. Tatsächlich wäre selbst bei einem EZB-Präsidenten Weidmann wohl kaum zu erwarten, dass er plötzlich eine komplette Kehrtwende vollziehe und eine ganz andere Politik betreibe. Geldpolitik-Experte Tillmann glaubt indes, dass die Debatte über die Draghi-Nachfolge bereits ihren Niederschlag im Rückgang der Inflationserwartungen findet: “Die Märkte befürchten, dass Draghis Nachfolger nicht das ganze Instrumentarium einsetzen werden.”Einhellig erwarten die Experten, dass Draghis Nachfolger eine Diskussion über die EZB-Strategie führen wird. Vor allem in den USA tobt eine solche Debatte, und EZB-Ratsmitglied Olli Rehn fordert das auch für die EZB. Rehn gilt als möglicher Kompromisskandidat für die Draghi-Nachfolge. Von einer Änderung des EZB-Inflationsziels von mittelfristig unter, aber nahe 2 % riet Hüther indes genauso ab wie seine Mitstreiter. Die Meinungen zu einer Änderung der EZB-Strategie gingen allerdings auseinander. Kater etwa hält den Ansatz einer Preisniveausteuerung für die EZB für sinnvoll. Das Konzept sieht vor, dass ein Über- oder ein Unterschießen des Ziels in den Folgejahren ausgeglichen werden muss. Tillmann dagegen sagte, dass die Preisniveausteuerung nicht praktikabel, weil kaum zu kommunizieren sei. Noch-EZB-Chef Draghi wird diese Diskussion dann in aller Ruhe aus der Entfernung verfolgen.