UNTERM STRICH

Die EZB braucht ein neues Koordinatensystem

Börsen-Zeitung, 15.6.2019 Der Countdown läuft. In der neuen Woche soll beim Gipfel der EU-Staats- und -Regierungschefs die Nachfolge des im Oktober als Präsident der EZB ausscheidenden Mario Draghi beschlossen werden. Vielen gilt diese Personalie...

Die EZB braucht ein neues Koordinatensystem

Der Countdown läuft. In der neuen Woche soll beim Gipfel der EU-Staats- und -Regierungschefs die Nachfolge des im Oktober als Präsident der EZB ausscheidenden Mario Draghi beschlossen werden. Vielen gilt diese Personalie als die wichtigste unter den ebenfalls auf dem Gipfel zu verhandelnden Spitzenämtern für EU-Kommission, EU-Rat und andere europäische Gremien. Das hat zwar Bundeskanzlerin Angela Merkel vor einem Jahr nicht so gesehen, als sie der Besetzung des EU-Kommissionspräsidenten durch einen deutschen Kandidaten, nämlich Manfred Weber, für wichtiger erachtete als die Ablösung Draghis durch den Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann. Doch je tiefer Manfred Webers Stern seit der Europawahl sinkt, desto größer wird Weidmanns Chance für den Chefsessel der Europäischen Zentralbank. An der WegscheideDer Bundesbankpräsident selbst hält sich – trotz aller Ambitionen – zur EZB-Spitzenpersonalie seit jeher bedeckt und kommentiert die Spekulationen dazu mit einer Mischung aus Gelassenheit und gesundem Selbstbewusstsein. Seine kritische Einschätzung zur Geldpolitik der EZB unter Draghi hat Weidmann dabei nicht geändert, auch wenn er sich zuletzt öffentliche Kritik weitgehend verkniffen hat. Für Weidmann steht die EZB an einer Wegscheide: Entweder marschiert sie weiter in die von Draghi eingeschlagene Richtung der monetären Staatsfinanzierung und lässt zu, dass die Grenzen des Mandats der Notenbank nicht nur weiter getestet, sondern noch weiter verschoben werden. Oder sie stoppt die immer dreistere politische Vereinnahmung und beschränkt sich – zumal in Nichtkrisenzeiten – wieder auf ihre definierten geldpolitischen Aufgaben.Insofern werden auf den nächsten EZB-Präsidenten, egal wie er heißt, eine Reihe ganz heikler Entscheidungen zukommen. Der Spaßfaktor des EZB-Chefpostens, das sieht auch Weidmann so, dürfte eher gering sein. Denn Mario Draghis Schlachtruf an die Märkte – “whatever it takes” – vom Sommer 2012, bei dem die Bedingung “within our mandate” längst zum geldpolitischen Wurmfortsatz degeneriert ist, hat in der Politik die Erwartung genährt, dass die Zentralbank als lender of last resort nicht nur klammen Banken, sondern auch finanziell überforderten Euro-Staaten zu Hilfe eilt, wann immer sie es wünschen. Seit die EZB mit ihrem Anleihekaufprogramm ökonomisch betrachtet Fiskalpolitik betreibt, kommt sie aus dieser Nummer nicht mehr raus – und will es bisher auch nicht.Draghi hat aber nicht nur der Politik Zeit gekauft, die ungenutzt verstrich, sondern auch der EZB Zeit verschafft, um ihre geldpolitischen Instrumente zu entwickeln und zu testen. So viel Zeit, dass die Zentralbank selbst den richtigen Zeitpunkt zum Exit aus der Nullzinspolitik und den außergewöhnlichen Maßnahmen verpasst hat. Da aber die strukturellen Schwächen größer und die staatlichen Schulden in den Problem-Ländern kaum weniger geworden sind, erschallen die Rufe nach weiteren EZB-Hilfen aus einzelnen Euro-Staaten schon dann, wenn der Aufschwung auch nur ein wenig an Kraft verliert.Draghis Nachfolger wird im November mit einer schweren Hypothek ins Amt starten: Auf der einen Seite hat Draghi erst jüngst dem Markt unnötigerweise eine Guidance gegeben, die dem nächsten EZB-Präsidenten bis zum Sommer 2020 die Hände bindet, will er nicht einen hausgemachten Crash auslösen. Auf der anderen Seite hat Draghi alles geldpolitische Pulver verschossen und das Magazin nicht wieder aufgefüllt. Welche Instrumente hat die Geldpolitik denn noch zur Verfügung, wenn dem Aufschwung demnächst die Puste ausgeht? Und wer, außer vielleicht ein in der Tradition der Bundesbank verankerter Weidmann, hätte den Mut, der Politik beim nächsten Konjunktureinbruch ins Stammbuch zu schreiben, dass es sich dabei dank Brexit, Handelskrieg und verfehlter Fiskalpolitik um selbst gemachte Probleme handelt und es zuvorderst Sache der Politik selbst sei, dies zu ändern, und nicht Aufgabe der Geldpolitik? Zeitgeist gegen WeidmannDer Zeitgeist, das muss man leider erkennen, spricht gegen Weidmann und dessen Vorstellung von der Rolle der Zentralbank. Selbst ernst zu nehmende Ökonomen sind angetan vom Krisenmanagement der EZB in den vergangenen Jahren. Draghi habe die Panik an den Märkten beendet und den Euro gerettet, so das Lob für die EZB-Politik. Immer wieder werden zum Beweis die Charts mit den Spreads der italienischen und spanischen Staatsanleihen gezeigt, die nach Draghis “Whatever it takes”-Rede von fast 6 % bis auf 1 % nach unten gingen. Aber wer hat hier vor wem kapituliert? Draghi hat die Bestrafung unsolider Haushaltspolitik durch den Markt ausgeschaltet beziehungsweise für die Laufzeit seiner ultraexpansiven Geldpolitik zur Bewährung ausgesetzt. Doch als Bewährungshelfer hat die EZB versagt. Insbesondere in Italien wurde und wird munter gegen die Regeln verstoßen und dem Bewährungshelfer auch noch die lange Nase gezeigt.Es ist die Kapitulation der Vernunft vor der normativen Kraft des Faktischen, mit der sich viele Ökonomen, Geldpolitiker und Notenbanker abgefunden haben. Die verschwimmenden Grenzen zwischen Geld- und Fiskalpolitik werden sogar als Merkmal einer “modernen” Zentralbank etikettiert. Warum sollte die EZB da anders sein als die US-Fed oder Bank of Japan?, so die scheinheilige Frage.Dabei ist die Politisierung auch der EZB längst in vollem Gange. Immer häufiger werden von Geld- und Währungsfragen weitgehend unbeleckte Politiker an die Spitze nationaler Notenbanken berufen und damit in den EZB-Rat geschickt. Als EZB-Präsident müsste Weidmann nicht nur einzelne Instrumente neu bewerten, sondern das Mandat insgesamt neu interpretieren und damit das ganze Koordinatensystem der EZB-Geldpolitik. Eine große Aufgabe. Aber er dürfte der einzige unter der Handvoll Kandidaten für den Chefposten sein, dem dies intellektuell wie auch praktisch zuzutrauen ist. – c.doering@boersen-zeitung.de——Von Claus Döring Der Countdown für die Draghi-Nachfolge an der EZB-Spitze läuft: Mit einem Präsidenten Jens Weidmann käme die Chance zur überfälligen Erneuerung. ——