DIE EZB WIRD 20 - IM INTERVIEW: OTMAR ISSING

"Die EZB hat gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstoßen"

Der Ex-EZB-Chefvolkswirt über die ersten Tage und Wochen der Notenbank im Juni 1998, den Wandel in der Krise und die Herausforderungen der Zukunft

"Die EZB hat gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstoßen"

– Herr Professor Issing, wenn Sie an die ersten Tage der EZB im Juni 1998 zurückdenken – was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn?Da kommen viele Erinnerungen hoch und ich werde gleich wieder ganz enthusiastisch. Am ersten Tag war so gut wie nichts da, nicht einmal Bleistifte. Die endgültige Entscheidung über die Ernennung des Direktoriums war ja erst am 2. Mai gefallen. Ich erinnere mich auch noch gut, wie wir sechs Direktoriumsmitglieder uns 14 Tage vor dem 1. Juni 1998 zum ersten Mal im Eurotower getroffen haben. Da war noch alles Baustelle, nicht einmal die Teppichböden waren verlegt. Mir ist am Anfang sogar ein Handy geklaut worden, weil da noch so viele Menschen ein und aus gingen. Aber es herrschte ein unglaublicher Geist.- Wie würden Sie diesen Geist beschreiben?Es war eine wahnsinnige Aufbruchsstimmung. Wir waren alle darauf ausgerichtet, dem Euro zu einem guten Start zu verhelfen. Wir waren nur eine kleine Gruppe, rund 470 Leute. In den nationalen Zentralbanken gab es damals mehr als 50 000 Mitarbeiter. Das Durchschnittsalter bei uns lag bei 34, 35 Jahren. Es gab keine strikten Hierarchien. Die jungen Mitarbeiter kamen, meist unangemeldet, direkt zu mir ins Büro. Ich habe bald eine kleine Gruppe Ökonomen um mich geschart, um die Strategie der EZB zu erarbeiten.- Sie galten auch als Garant, dass die EZB in der Tradition der Bundesbank agiert.Der erste EZB-Präsident Wim Duisenberg hatte mir früh gesagt, dass ich die Zuständigkeit für Volkswirtschaft und Forschung erhalten würde, wenn ich zur EZB käme. Davon waren wohl nicht alle begeistert. Als wir dann 14 Tage vor dem Start alle sechs Mitglieder des Direktoriums zusammen durch den 34. Stock gegangen sind, um die vier Zimmer an den vier Ecken zu verteilen, sagte Duisenberg: “Ich mische mich nicht ein, aber eine Vorgabe habe ich: Otmar bekommt ein Zimmer, von dem aus er die Bundesbank nicht sehen kann!” Ich sagte: “Wim, die Methode kann ich nicht akzeptieren!” Aber mit dem Ergebnis konnte ich gut leben – ich erhielt einen wunderbar hellen Raum. Ich habe aber vor allem in den ersten zwei Jahren alles getan, um nicht als “der Deutsche” zu gelten. Ich war überzeugt von dem europäischen Auftrag. Ich habe zum Beispiel die ersten zwei Jahre keine Einladung zu einem Vortrag in Frankfurt angenommen.- Der Euro sollte so hart werden wie die D-Mark. Ist er das?Das hat die Politik versprochen und die EZB hat das Versprechen eingelöst. In den knapp 50 Jahren der D-Mark lag die durchschnittliche jährliche Inflationsrate bei 2,8 %. In den immerhin jetzt knapp 20 Jahren des Euro liegt sie deutlich unterhalb von 2 %.- Trotzdem gibt es vor allem in Deutschland viel Kritik. Warum?Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Deutschen Sparbuch-Sparer sind und es nun seit einiger Zeit so gut wie keine Zinsen mehr gibt. Wenn man sich die Realzinsen anschaut, also Zins abzüglich Inflation, sieht es da zwar anders aus. Aber das blenden viele aus. Die Deutschen haben mit dem Euro ihren Frieden gemacht, aber sie haben sich mit der EZB immer noch nicht richtig angefreundet. Dass in den vergangenen Jahren zwei deutsche Direktoriumsmitglieder zurückgetreten sind, hat die Begeisterung der Deutschen für die EZB auch nicht gerade gefördert. Das gilt vor allem für den Rücktritt von Jürgen Stark, der den geldpolitischen Kurs nicht mehr verantworten wollte.- Viele erkennen die deutsche Prägung der EZB nicht mehr und sehen sie inzwischen eher als eine Zentralbank angelsächsischen Charakters, als eine Art Fed 2.0.Ich habe die EZB nie als Klon der Bundesbank gesehen – anders als viele andere in Deutschland. Die Bundesbank zog ihr Selbstbewusstsein aus ihrem Track Record als Notenbank mit einer der stabilsten Währungen der Welt. Die EZB fing dagegen bei null an. Zudem ist die Welt der EZB eine mit ganz anderen Herausforderungen: Geldpolitik für einen äußerst heterogenen Währungsraum zu machen, ist etwas anderes, als Geldpolitik für ein Land zu machen.- Sehen Sie die EZB in der Bundesbank-Tradition, etwa wenn es um die Zwei-Säulen-Strategie geht, der Kombination aus wirtschaftlicher und monetärer Analyse?Man kann und sollte seine Strategie nicht quasi jede Woche ändern. Eine Strategie ist aber auch nicht auf ewig in Stein gemeißelt. Ich bin jedoch nach wie vor überzeugt, dass eine Strategie, die die Kredit- und Geldmengenentwicklung umfassend analysiert, allen anderen Strategien überlegen ist. Wenn man diese Erkenntnisse in der Geldpolitik außer Acht lässt, besteht die große Gefahr, dass man ein monetäres Umfeld erzeugt, das wie 2008 in eine Weltfinanzkrise führt. Leider ist die Zwei-Säulen-Strategie der EZB zunehmend zu einer leeren Hülle verkommen. Das sehe ich sehr kritisch.- Was meinen Sie konkret?Der scheidende EZB-Vizepräsident Vítor Constâncio hat Anfang Mai gesagt, dass die EZB nun in die Reihe der Notenbanken eingetreten sei, die eine Strategie der flexiblen Inflationssteuerung verfolgen. Das hat mich sehr erstaunt und irritiert. Das Eingangsstatement des Präsidenten nach den Zinssitzungen alle sechs Wochen folgt nach wie vor voll und ganz dem Rahmen der Zwei-Säulen-Strategie. Aber dann sagt der Vizepräsident, dass sich die EZB davon längst verabschiedet habe. Transparenz sieht für mich anders aus. Was mich sehr besorgt, ist, dass weltweit dieses Flexible Inflation Targeting inzwischen schon fast als eine Art Glaubensbekenntnis vorgetragen wird.- Wird es Zeit für eine neuerliche Überprüfung der Strategie der EZB wie auch des Inflationsziels von unter, aber nahe 2 % – so wie 2003?Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, Strategie und Ziele immer wieder selbstkritisch auf den Prüfstand zu stellen. Eine Änderung sollte aber nicht leichtfertig und voreilig geschehen. Was das 2-Prozent-Ziel betrifft: Die Verhältnisse haben sich geändert. Globalisierung, technologischer Fortschritt, Demografie – all das drückt auf die Inflation. Der Ehrgeiz, mit dem die EZB versucht, die 2 % so schnell wie möglich zu erreichen, ist vor diesem Hintergrund schwer nachvollziehbar.- Was halten Sie von Vorschlägen für institutionelle Reformen, wie etwa eine Stimmengewichtung?Ich kann nur davor warnen, das EZB-Statut “aufzumachen”. Dann werden vermutlich als Erstes das Mandat und die Unabhängigkeit der EZB auf der Strecke bleiben. Eine Stimmengewichtung wäre vermutlich auch schlecht für die Diskussionskultur im Rat. Vor allem aber würde das die nationale Orientierung, die sich im Rat leider breitgemacht hat, zementieren. Diese grundlegende Problematik rührt daher, dass die EZB immer mehr in die Nähe der Finanzpolitik geraten ist. Der Kauf von Staatsanleihen hat direkte fiskalische und politische Implikationen. Da kann man kaum erwarten, dass ein Notenbankgouverneur vergisst, wo er herkommt.- Ist diese Politisierung der EZB noch einmal umkehrbar?Der Wendepunkt war das Wochenende im Mai 2010, als der EZB-Rat erstmals den Kauf von Anleihen einzelner Staaten beschlossen hat. Für die EZB war das eine Lose-lose-Situation: Hätte sie nichts unternommen und es wäre so schlimm gekommen wie befürchtet, hätte man sie verantwortlich gemacht. Mit dem Kauf von Staatsanleihen hat die EZB aber andererseits gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstoßen. Die EZB hat es damals versäumt, glaubwürdig klarzumachen: einmal und nie wieder! Ich sage nicht, dass das einfach ist. Aber seitdem verlässt sich die Politik darauf, dass die EZB stets als eine Art “Ausputzer” für die Versäumnisse der Politik bereitsteht. Das kann der EZB und ihrer Unabhängigkeit auf Dauer nicht gut bekommen.- Inwiefern?Die EZB ist zur bedeutendsten und wichtigsten Institution in der Währungsunion geworden, mit einer Verantwortung, die weit über das hinausgeht, für was eine unabhängige Zentralbank demokratisch legitimiert ist. Aktuell wird die EZB dafür von vielen noch gefeiert. Aber die Politik wird das nicht auf Dauer gutheißen. Das ist eine akute Bedrohung für die Unabhängigkeit der EZB.- Was müsste sich jetzt ändern?Klar ist, das geht nicht in einem “Big Bang”. Die EZB müsste der Politik viel klarer machen, wo ihre Grenzen liegen. Die Kommunikation geht aber leider in die andere Richtung. Die EZB hat selbst erklärt, wenn nötige Reformen nicht kommen, wird sie noch länger expansiv bleiben müssen. Das setzt die völlig falschen Anreize. Schauen Sie sich Italien an: Die Populisten von links und rechts, die eine Wählermehrheit hinter sich wissen, machen aberwitzige fiskalische Versprechungen und das auf Basis einer bereits riesigen Staatsverschuldung – aber die langfristigen Zinsen steigen bisher nicht so, wie das zu erwarten wäre. Die Märkte setzen fest darauf, dass im Notfall die EZB auf den Plan tritt. Das ist eine für die Währungsunion als Union stabilen Geldes äußerst bedrohliche Situation.- Brüssel forciert nun die Euro-Einführung in allen EU-Ländern. Was hieße das für die EZB?Man sollte doch denken, dass man aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat: Die Aufnahme Griechenlands war weder für die Griechen selbst noch für die Eurozone oder die EZB gut. Wenn Länder beitreten, die nicht reif sind, wird es im EZB-Rat künftig noch mehr Notenbankgouverneure geben, die für eine Geldpolitik votieren, die diesen Aufnahmefehler korrigiert. Es wäre der absolut falsche Weg, jetzt um jeden Preis den Euro überall einführen zu wollen.—-Das Interview führte Mark Schrörs.