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Die EZB nach Draghi braucht eine neue Strategie

Börsen-Zeitung, 25.6.2019 Nachdem die Europawahlen nun hinter uns liegen, nimmt die Debatte über die Besetzung einiger hochkarätiger EU-Positionen - darunter die Frage nach dem Nachfolger von Mario Draghi als Präsident der Europäischen Zentralbank...

Die EZB nach Draghi braucht eine neue Strategie

Nachdem die Europawahlen nun hinter uns liegen, nimmt die Debatte über die Besetzung einiger hochkarätiger EU-Positionen – darunter die Frage nach dem Nachfolger von Mario Draghi als Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) – immer mehr Fahrt auf. Beim Gipfel vergangene Woche konnten sich die Staats- und Regierungschefs im Personalpoker noch nicht einigen. Nun soll eine Lösung am 30. Juni her.Unabhängig davon, wie man Draghis Amtszeit bewertet, hat die EZB ein Glaubwürdigkeitsproblem, das dringend angegangen werden muss. In den sieben Jahren seit der Schuldenkrise ist es der EZB nicht gelungen, ihr Inflationsziel zu erreichen, und der Markt glaubt nicht daran, dass die Zentralbank dies in Zukunft wird bewerkstelligen können. Wird das Inflationsziel konsequent verfehlt, so hat dies wesentliche wirtschaftliche Konsequenzen. Beispielsweise nimmt der Spielraum für Zinssenkungen und Stimulierungsmaßnahmen in einer künftigen Abschwungphase ab. Mangelnde GlaubwürdigkeitNoch schlimmer ist aber, dass der Zustand mittlerweile eine Eigendynamik entwickelt hat. Nach Meinung der Finanzmärkte wird die EZB ihr Inflationsziel in den nächsten zehn Jahren nicht erreichen. Dies zeigt, wie sehr man sich an die niedrige Inflation gewöhnt hat. Derzeit rechnen die Märkte in den nächsten fünf bis zehn Jahren in der Eurozone mit einer durchschnittlichen Inflation von nur 1,3 %, die damit deutlich unterhalb des Zielwerts der EZB von unter, aber nahe 2 % liegen würde.Spätestens der neue EZB-Präsident sollte bestrebt sein, die Notenbank wieder auf den richtigen Weg zu bringen, indem zum einen die Forward Guidance dahin gehend angepasst wird, dass sie für 2020 keinerlei Zinserhöhung mehr vorsieht, und zum anderen das Wertpapierkaufprogramm (Quantitative Easing, QE) reaktiviert wird.Dies würde die Probleme der Eurozone zwar nicht lösen – die Anleger sind bereits seit langem überzeugt, dass es 2020 keine Zinserhöhung geben wird -, doch es wäre ein Anfang. Ein unmittelbarerer, aber gewagterer Schritt bestünde darin, den Zinssatz für Bankkredite beim TLTRO-Programm deutlich zu senken und damit die Kreditvergabe der Banken anzukurbeln.Der Zinssatz könnte unter dem Einlagensatz angesetzt werden, der für Geldanlagen der Banken bei der EZB gilt. Dies würde bedeuten, dass die EZB Banken für die Aufnahme von Krediten einen Zinssatz zahlt, der höher liegt als jener, den sie für Einlagen der Banken erhebt, wodurch sie rein technisch gesehen in der Folge Verluste verzeichnen würde. Doch dieses Konzept wäre folgenlos für eine Zentralbank, die ihr eigenes Geld druckt. Und das Schöne daran ist, dass dieses geldpolitische Instrument bereits vorhanden ist.Grundsätzlich sollte Draghis Nachfolger eine Überprüfung des gesamten geldpolitischen Rahmenwerks und des Inflationsziels der EZB in die Wege leiten. Die aktuelle, vage Formulierung von “unter, aber nahe 2 %” ist alles andere als hilfreich. Niemand weiß so recht, was damit gemeint ist, wodurch die Glaubwürdigkeit der Zentralbank zwangsläufig untergraben wird. Es sollte ein neuer Zielwert für die Kerninflation von 2 % festgelegt werden – klar und deutlich.Die EZB könnte noch einen Schritt weitergehen und anstatt eines Inflationsziels ein Preisniveauziel formulieren. Im Rahmen des angewandten Systems hat sich ein Verfehlen des Zielwerts durch die EZB in der Vergangenheit nur geringfügig auf deren künftige Geldpolitik ausgewirkt. Der Vorteil eines Preisniveauziels besteht darin, dass frühere Verfehlungen des Inflationsziels mit einem darauffolgenden Überschießen kompensiert werden müssen, damit sich das Preisniveau im Laufe der Zeit konsequent aufwärts bewegt. Letztlich eröffnet dies einen größeren Spielraum für Zinssenkungen, wenn die Wirtschaft durch Stimulierungsmaßnahmen angekurbelt werden muss. Steuerung der RenditekurveDer neue Präsident könnte sogar noch einen weiteren Schritt unternehmen und das geldpolitische Instrumentarium der Notenbank um Maßnahmen zur Renditekurvensteuerung, ähnlich wie bei der Bank of Japan, erweitern. Dies ließe sich beispielsweise dadurch bewerkstelligen, dass alle Staatsanleiherenditen in der Eurozone auf demselben Niveau verankert werden, was einen unmittelbaren Rückgang der Kreditkosten über den Großteil des Währungsraumes hinweg zur Folge hätte und die Wirtschaftsaktivität beflügeln würde. Dieser scheinbar radikale Vorschlag ist lediglich die logische Schlussfolgerung aus der Aussage, dass bei Staatsanleihen aus der Eurozone kein Ausfallrisiko besteht, da sich die EZB schließlich dazu verpflichtet hat, die Währungsunion nie auseinanderbrechen zu lassen. EU-Politik überzeugenDies würde sich im Rahmen eines Lösungsansatzes als äußerst technischer und schwer zu verwirklichender Bestandteil erweisen, der zudem wohl gerichtlich angefochten würde. Zudem würde dieser Schritt zu einer derart starken politischen Spaltung führen, dass die EZB ihn aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wagen wird.Und hierin liegt die Krux für die EZB. Die Meinungsverschiedenheiten unter den Europäern halten sie davon ab, das zu tun, was am besten für alle wäre. Eine einfallsreiche Geldpolitik ist zwar schön und gut, kann aber auch immer nur ein Teil der Lösung sein.Was Europa vor allem braucht, sind strukturelle Reformen und eine antizyklische Fiskalpolitik. Draghi hat sich unablässig dafür eingesetzt, er war allerdings letztlich nie in der Lage, die politisch Verantwortlichen zu nachhaltigen Maßnahmen zu bewegen.Sollte sein Nachfolger das Ziel verfolgen, die Glaubwürdigkeit der Zentralbank in Bezug auf die Inflation wiederherzustellen und die Eurozone damit letzten Endes auf einen nachhaltigen Kurs zu bringen, dann bestünde die Herkulesaufgabe darin, die europäischen Politiker zum Handeln zu bewegen. Paul Diggle, Senior Economist bei Aberdeen Standard Investments